Methode für mehr AchtsamkeitDas Comeback des Tagebuchschreibens
Sie finden keine Möglichkeit, wie Sie Ihren Alltag entschleunigen können? Dann hilft vielleicht «Journaling»: Die moderne Form des Tagebuchschreibens ist eine bewährte Achtsamkeitsübung.
Es gibt Tage, an denen Bianca Fritz den Kopf schon am Morgen voll hat und vor lauter Aufgaben nicht weiss, wo anfangen. Dann hilft der 41-jährigen Marketing-Beraterin das Schreiben. Seit sie vor sechs Jahren mit dem Journaling angefangen hat, startet die Baslerin entspannter und sortierter in den Tag.
Sie ist ein Fan der «Morgenseiten»-Methode: Dabei notiert man nach dem Aufstehen alles, was einem gerade im Kopf herumschwirrt. Durch die Fülle der notierten Gedanken kann man Lösungsansätze für Dinge finden, die einen schon länger beschäftigen.
Für ein kreativeres und bewussteres Leben
Für die US-amerikanische Autorin Julia Cameron, die Erfinderin der «Morgenseiten», ist es «das fundamentale Werkzeug, um seine Kreativität wiederzufinden». Ihre Methode ist allerdings nichts für Morgenmuffel, weil man sich jeden Tag morgens 30 bis 60 Minuten dafür Zeit nehmen sollte.
Doch das macht Bianca Fritz nichts aus. Für sie hat das morgendliche Schreiben mittlerweile eine entschleunigende Wirkung, die sie nicht mehr missen möchte: Was für andere das Meditieren ist, ist für sie das Journaling: Selbstcoaching und Achtsamkeitsübung.
Daneben nutzt sie auch gezielte Reflexionsfragen zum Journaling, für die sie sogar ein eigenes Kartenset entworfen hat. «Journaling hilft mir, mich besser zu verstehen, klare Entscheidungen zu treffen und so mein ganzes Leben bewusster zu gestalten.»
Ausser den «Morgenseiten» gibt es noch zahlreiche weitere Journaling-Methoden. Was alle verbindet: Die Schreibenden reflektieren ihre Erfahrungen und setzen sich mit den eigenen Gedanken und Gefühlen auseinander. Während das klassische Tagebuchschreiben hilft, Vergangenes zu ordnen und loszulassen, geht das Journaling also einen Schritt weiter: Hier gehts darum, neue Erkenntnisse und Perspektiven zu entwickeln, die einen weiterbringen.
Wer von Hand schreibt, profitiert mehr
Bianca Fritz empfiehlt, beim Journaling zu Stift und Notizbuch zu greifen, da so «ganz andere Dinge aufs Papier fliessen». Tatsächlich weist auch die Wissenschaft auf diesen Vorteil hin: Wer etwas von Hand schreibt, aktiviert dabei mehr Hirnareale als beim Tippen auf einer Tastatur. So sind wir fokussierter, und unsere Wahrnehmung wird gleich mehrfach angesprochen.
Wer beim Journaling auf den Computer verzichtet, vermeidet ausserdem das Risiko, sich durch Instagram, Facebook, Twitter oder E-Mails ablenken zu lassen.
Von Anne Frank bis Paul Henkel
Eine der frühesten und bis heute bekanntesten Journaling-Nutzerinnen war übrigens Anne Frank. Während sich das jüdische Mädchen im Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie in einem Amsterdamer Hinterhaus vor den Nazis versteckte, begann es damit, Tagebuch zu schreiben.
Als der Vater nach Kriegsende Annes Tagebuch las, war er sehr erstaunt: Obwohl er seine Tochter gut zu kennen glaubte, überraschte ihn die Tiefgründigkeit ihrer Gedanken. Das Tagebuch wurde nicht nur zu einem der bedeutendsten Erlebnisberichte aus der Zeit des Holocausts, sondern es war auch Annes wichtigster Rettungsanker: «Mit dem Schreiben löst sich alles, mein Kummer schwindet, der Mut lebt wieder auf.» In der beklemmenden Enge ihres Verstecks und mit der ständigen Angst, entdeckt zu werden, half ihr das tägliche Schreiben, trotz allem Leid das Positive zu sehen und die Hoffnung nicht zu verlieren.
«Journaling gehört zu den wirksamsten Methoden, um ein bewusstes und glückliches Leben zu führen.»
Wer «Journaling» googelt, hat gute Chancen, den Berliner Blogger Paul Henkel kennen zu lernen, zumindest virtuell. Er litt früher unter Depressionen und Panikattacken. Wie für Anne Frank wurde auch für ihn das Schreiben zu einem Rettungsanker. Er zählt das Journaling «zu den wirksamsten Methoden, um ein bewusstes und glückliches Leben zu führen». Henkel teilt seine Journaling-Erfahrungen im Blog «Schreibenwirkt».
Anne Franks und Paul Henkels Erfahrungen werden von Studien bestätigt: Das Schreiben kann helfen, besser mit psychischen Belastungen fertig zu werden. Daher wird Journaling auch im Rahmen von Psychotherapien und als Selbsthilfe-Tool eingesetzt. Es kann dazu beitragen, Stress, Angstzustände und Depressionen besser zu bewältigen.
Allerdings gibt es auch Risiken für Menschen, die psychisch zu stark vorbelastet oder gar traumatisiert sind: Wenn sie beim Schreiben feststellen, dass die negativen Gedanken zu- statt abnehmen, sollten sie besser einen Therapeuten zurate ziehen.
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