Gegner wollen Biden schadenDas böse R-Wort
Herrscht in den USA eine Rezession oder nicht? Wie der Parteienstreit um die Wirtschaft in das Online-Lexikon Wikipedia hineingetragen wird.
Auf der englischsprachigen Website des Online-Lexikons Wikipedia spielt sich gerade ein bizarrer Meinungsstreit um den Begriff «Recession» ab: Der Artikel dazu wurde in den vergangenen Tagen gleich mehrmals von unangemeldeten Nutzern editiert. Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches. Schliesslich ist es ja das Ziel von Wikipedia, das Wissen vieler, die sogenannte Schwarmintelligenz, zu nutzen.
Doch nun haben angemeldete und erfahrene Wikipedianer den Artikel erst einmal bis diesen Donnerstag für die Bearbeitung durch unangemeldete Nutzer gesperrt. Denn üblicherweise ändern Nutzer nicht einfach kommentarlos herum, sondern diskutieren die möglichen Änderungen auf der dafür vorgesehenen Diskussionsseite. Das aber wurde hier sträflich missachtet und zwar, wie zu vermuten ist, aus politischen Gründen.
Der Hintergrund: In den USA tobt ein Streit darüber, ob sich das Land in einer Rezession befindet oder nicht. Das demokratisch geführte Weisse Haus möchte das böse R-Wort gerne vermeiden. Auch Finanzministerin Janet Yellen geht damit sehr sparsam um – wohl wissend, dass jedes ihrer Worte, gesagt oder manchmal auch ungesagt, genauestens analysiert und bewertet wird.
Der politische Gegner freilich, die Republikaner, will die Regierung des Demokraten Biden in möglichst schlechtem Licht erscheinen lassen. Dieser politische Streit ist nun auch auf die Wikipedia-Bühne getragen worden. Während die Biden-Seite von Rezession nichts wissen will, argumentieren seine Gegner genau andersherum. Aber wer hat nun recht?
Der Begriff Rezession selbst kommt aus dem Lateinischen. Das Verbum recedere bedeutet zurückweichen, sich zurückziehen. Auf die Wirtschaft angewendet scheint zunächst klar zu sein, was das bedeutet: Wenn die Wirtschaftsleistung zurückgeht, befindet sich eine Volkswirtschaft im Rückwärtsgang, also in einer Rezession. Demnach hätten die Biden-Gegner also recht.
Eine oft zu hörende Definition besagt, wenn die Wirtschaftsleistung zwei Quartale in Folge sinkt, herrscht eine Rezession. Genau das ist nun erfüllt: Vergangenen Donnerstag musste die Biden-Regierung einen Rückgang der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal um 0,9 Prozent bekanntgeben – es ist der zweite Rückgang in Folge. Gemäss genannter simpler Definition wären die USA damit in einer Rezession.
«Wenn man fast 400’000 Jobs im Monat schafft, ist man nicht in einer Rezession.»
Ganz so einig sind sich Experten dabei aber nicht. Zahlreiche Wirtschaftsforscher kalkulieren etwas anders (lesen Sie hier unseren Beitrag aus dem Jahr 2019 zu dieser Frage). Sie berechnen zunächst, was eine Volkswirtschaft eigentlich produzieren könnte, und stellen dem gegenüber, was sie tatsächlich leistet. Im Wissenschaftsdeutsch heisst das, was möglich wäre, Produktionspotenzial. Eine Volkswirtschaft wäre demnach erst in einer Rezession, wenn sie zwei Quartale in Folge unter ihren Möglichkeiten bleibt.
Das sei nun nicht der Fall, argumentiert die Biden-Regierung: Tatsächlich ist die Arbeitslosigkeit tief und tätigen Firmen nach wie vor Investitionen. Und Finanzministerin Yellen sagte auf «NBC»: «Wenn man fast 400’000 Jobs im Monat schafft, ist man nicht in einer Rezession.»
Auf Wikipedia waren immer schon verschiedene Definitionen angeboten worden. Doch kurz vor der erwarteten Bekanntgabe neuer Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) der USA hiess es in der Einleitung des Lexikon-Artikels plötzlich arg verkürzend: «Wirtschaftswissenschaftler betrachten zwei aufeinander folgende Rückgänge des BIP gewöhnlich als Rezession.»
Definition war nirgends belegt
Allerdings fand sich weder im Haupttext eine dazu passende Stelle, noch wurde die Behauptung mit einer Quelle belegt. Als Wikipedia-Editoren die Passage löschten, tauchte sie kurz darauf erneut auf, und das mehrmals hintereinander. Deshalb setzten die Editoren dem Spuk nun erst mal ein Ende und erlaubten Änderungen nur noch für angemeldete Benutzer.
Der Verdacht liegt nahe, dass die politischen Gegner der Regierung Biden versuchen, diesem durch Änderungen der Definition zu schaden. Dass die Wikipedia-Verantwortlichen dies nun unterbinden, steht nun wenig überraschend ebenfalls in der Kritik. So schrieb der Tesla-Gründer und reichste Mensch der Welt, Elon Musk, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter gewohnt Biden-kritisch, Wikipedia verlöre seine Objektivität.
Im Land, wo Fakten alternativ sein können, war es wohl nur eine Frage der Zeit, dass auch die beliebteste Enzyklopädie der Welt zwischen die politischen Fronten geraten würde.
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Mitarbeit: Konrad Staehelin
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