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Papablog: Nervige Bedürfnisinflation
Das Bedürfnis, mir ins Gesicht zu schreien? Wohl kaum!

Einfach nur doof: Erwachsene anzubrüllen, ist definitiv kein existenzielles Bedürfnis, das es zu stillen gilt.

Ich bin zwar müde und erschöpft, aber dafür reicht es noch: Es ist Sommer und meine beiden jüngeren Kinder haben diverse Verabschiedungsfeste in irgendwelchen Parks oder Spielanlagen. Das Wetter ist schön, es geht einigermassen coronakonform zu und ich sitze im Gras. Eigentlich läge ich viel lieber zu Hause im Bett. Die letzte Woche war extrem anstrengend, weil die Lebenskomplizin einen Fahrradunfall hatte und damit grossflächig ausfällt. Aber ich habe die angekündigte Pizza fertig gebacken, die notwendigen Sachen gepackt und bin tatsächlich zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit dem richtigen Kind aufgetaucht. Yay me!

Eigentlich könnte ich mich gerade entspannen, aber irgendein Kind läuft mit einer Trillerpfeife durch die Gegend, macht vor jeder einzelnen Person markerschütternden Krach, brüllt anschliessend «Pfeifattacke!» und sucht dann weitere unschuldige Opfer heim. Als er sich vor mir aufbaut, sage ich ihm, dass das extrem laut und nervig ist, und bitte es, mit dem Krach aufzuhören. Es guckt verwundert, stürmt in eine eher leere Ecke des Geländes und macht dort weiter Krach. Ich atme erleichtert auf. Einer der umstehenden Papis sieht mich tadelnd an und sagt dann tatsächlich: «Vielleicht hatte er ja gerade das Bedürfnis, Krach vor anderen zu machen. Hast du darüber mal nachgedacht?»

Passiv aggressive Kommentare

Ziemlich fassungslos wäge ich ab: Ich bin müde und erschöpft, aber in letzter Zeit habe ich echt zu viel von diesem Unfug gehört. Also entscheide ich, dass ich Bock auf Streit habe – dafür reicht es noch. «Finds ja gut, dass du dich für bedürfnisorientierte Erziehung interessierst», sage ich. «Aber vielleicht informierst du dich doch ein bisschen mehr darüber, bevor du andere Leute mit passiv aggressiven Kommentaren volllaberst.» Er läuft rot an. Dann beginnt er mit einem Vortrag über Attachement Parenting, um zu zeigen, wie gut er das alles verstanden hat und wie super er ist. Blicke nach links, Blicke nach rechts, ist auch genug Publikum anwesend? «Ergreifend», sage ich. «Schlage vor, du suchst mir im Internet schnell einen Text zum Bedürfnis ‹Krach vor anderen machen› raus und schickst ihn mir, dann geht der Punkt an dich und wir essen was.»

Bedürfnisorientierte Erziehung ist grundsätzlich eine gute Sache. Aber mir ins Gesicht zu trillern, ist kein Bedürfnis.

«Das Kind wollte einfach gesehen werden!», doziert er weiter. «Schätze auch», sage ich. «Vielleicht auch Selbstwirksamkeit, Kreativität und Zuwendung.» Er guckt mich irritiert an. Schaut auf sein Handy, guckt wieder mich an. Dann schnaubt er entrüstet und wendet sich ab. Ist ja gut, Papi, du bist nicht wirklich das Problem. Und ich hätte das sicher auch weniger fies regeln oder einfach zur Abwechslung mal meine Klappe halten können. Aber es nervt unfassbar. Eltern, die in den Ruinen ihrer Bindungsorientierungslektüre zwölf Millionen Bedürfnisse identifizieren und damit allen, einschliesslich sich selbst und ihre eigenen Kinder auf den Keks gehen.

Bedürfnisse sind essenziell – ihre Befriedigung lebensnotwendig. Deswegen ist bedürfnisorientierte Erziehung auch grundsätzlich eine gute Sache. Aber mir ins Gesicht zu trillern, ist kein Bedürfnis – es ist eine Strategie zur Bedürfnisbefriedigung. Und Menschen verfügen über Myriaden von Bedürfnisbefriedigungsstrategien, von denen viele sehr nervig sind. Oder übergriffig. Zerstörerisch. Anmassend. Kontraproduktiv. Diskriminierend.

Bedürfnis versus unangemessenes Verhalten

Ich muss mich mit Verweis auf die angebliche Bedürfnislage von Kindern nicht beissen, bewerfen, beschimpfen oder anschreien lassen. Ein Kind hat nicht das Bedürfnis, bei einem Besuch alle anderen Anwesenden mit Orangensaft zu übergiessen. Das ist unangemessenes Verhalten und das sollte auch so kommuniziert werden. Ein Kind hat aber sehr wohl ein unmittelbares Bedürfnis nach Sicherheit, weshalb jeder Versuch, es mit Sätzen wie «Wenn du nicht kommst, dann gehe ich eben und du musst hierbleiben!» zum Aufbruch zu bewegen, eine richtig beschissene Idee ist.

Es war mir also kein Bedürfnis, den Papi auf dem Fest zur Schnecke zu machen. Es war bloss eine Strategie. Und vermutlich war es nicht einmal die Beste. Aber wenn wir nicht alle miteinander endlich mit dieser Inflation von angeblichen Bedürfnissen aufhören, dann werden wir unser Miteinander irgendwann so mit schlechten Bedürfniserfüllungsstrategien zugemüllt haben, dass wir uns jeden Blick auf unsere tatsächlichen Bedürfnisse versperren. Strategien sollten immer kritisierbar sein, damit echte Bedürfnisse nicht infrage gestellt oder ignoriert werden.

Wie ist es mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser? Kennen Sie solche Bedürfniskonflikte? Diskutieren Sie mit.