Das Wunderbaby aus SyrienDas Baby, das das Beben überlebte
Zehn Stunden lag die kleine Afraa unter den Trümmern des Erdbebens in Syrien. Nun ist sie bei Verwandten untergekommen. Doch das Wunderbaby weckt Begehrlichkeiten.

Die Staubfarbene: So heisst das syrische Baby, das Anfang Februar zehn Stunden nach der Erdbebenkatastrophe unter den Trümmern seines Haus geborgen wurde, noch mit der Nabelschnur am Körper. Die Bilder gingen um die Welt: Ein Helfer trägt das nackte Baby vorbei an den Trümmern in Richtung einer Ambulanz, ein Mann wirft noch eine Decke hinterher. Das kleine Mädchen, das in Jinderis im Nordwesten Syriens lebte, verlor seine sechsköpfige Familie. Khalil Suwaidi, ein Cousin ihres Vaters, hat den Säugling mittlerweile bei sich aufgenommen und nach seiner verstorbenen Mutter benannt: Afraa. Das arabische Wort für Staub, für Erde.
Khalil Suwaidi hat bereits sechs Kinder, er klingt müde am Telefon. Schlaflose Nächte haben seine Frau und er nun gleich aus zwei Gründen: Zwei Tage nachdem Afra geborgen worden war, wurde er noch mal Vater einer Tochter. Seine Frau ist nun vor allem mit Stillen beschäftigt, das sei anstrengend, aber sie mache es gerne, immerhin ist das Mädchen ihre Nichte. «Afraa trinkt gut, sie ist eine kleine Kämpferin», erzählt Suwaidi am Telefon. Er sei in den vergangenen Tagen von Adoptionsgesuchen nahezu überschwemmt worden – doch er könne einfach nicht zustimmen. «Sie ist das Letzte, was mir von ihrer Mutter und ihrem Vater geblieben ist. Sie ist eine Erinnerung an sie, man gibt nicht sein eigen Fleisch und Blut weg.»
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Khalil Suwaidi ist mit der Schwester des verstorbenen Vaters des Babys verheiratet, der auch sein Cousin war. Das medizinische Personal im Jihan-Spital in Afrin hatte zuvor einen DNA-Test durchgeführt, um sicherzustellen, dass es sich bei seiner Frau tatsächlich um Afraas Tante handelt. Seit dem 6. Februar wird das kleine Mädchen im Brutkasten aufgepäppelt, es war unterkühlt und hatte Prellungen, aber wie durch ein Wunder keinerlei Knochenbrüche. Das Personal im Spital hatte das Mädchen zuvor Aya genannt, ein Wunder. «An dem Tag, als sie uns sagten, dass wir sie haben könnten, war ich überglücklich, es war unbeschreiblich», erzählt der Onkel.
Es waren Überlebensgeschichten wie die von Afraa, die vielen Menschen in der Türkei und Syrien Hoffnung gaben nach der verheerenden Erdbebenkatastrophe: In der Türkei fanden Helfer nach 68 Stunden ein Baby, sie riefen vor Freude «Allahu Akbar», «Gott ist am grössten». Wenige Tage später konnte sogar noch nach 128 Stunden ein zwei Monate altes Baby geborgen werden. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Mutter und Baby sowie zwei Kinder wundersam gerettet».)
Drei Männer sollen versucht haben, das Baby zu entführen
Das Wunderbaby Afraa machte aber nicht nur internationale Schlagzeilen, sondern soll auch Begehrlichkeiten bei Milizen geweckt haben, zumindest berichteten einige Medien davon. Immerhin boten Tausende Menschen nicht nur an, das Kind zu adoptieren, sondern auch für es zu spenden. Klinikleiter Khaled Attija erzählte auf Twitter von dem Versuch dreier Männer, das kleine Mädchen Mitte Februar zu entführen. Er stellte sich ihnen nach eigenen Angaben entgegen.
In einem Video zeigt er sich mit blauem Auge, das er von dem Versuch davongetragen haben soll. Khalil Suwaidi bestätigt das. «Es gab Streit um das Kind, das stimmt, wegen der ganzen medialen Aufmerksamkeit. Ich glaube, dass auch Leute der Assad-Regierung Interesse an der Kleinen haben.» Ein Syrien-Experte sagte auf Anfrage, dass es, wenn überhaupt, türkische Milizen sein könnten, da diese dort das Sagen haben.

Doch das Kind scheint sicher zu sein, Bilder zeigen die kleine Afraa im Kreise ihrer Verwandten. Das Haus der Familie wurde durch das Erdbeben zerstört, sie leben nun in einem kleinen Zelt. Afraa ist warm eingepackt und trägt eine rote Mütze mit Schleife. «Ich habe meine Kinder vorher gefragt, ob wir Afraa zu uns nehmen sollen. Ich habe ihnen erzählt, dass viele Menschen sie adoptieren wollen. Da haben einige von ihnen geweint, sie wollten Afraa unbedingt bei sich haben», sagt Khalil Suwaidi. Ausreiseangebote, etwa aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, habe er nach eigenen Angaben abgelehnt. «Hier ist der Duft ihrer Eltern, ihrer Geschwister», sagt Suwaidi, «hier sind sie gestorben, deshalb werden wir hierbleiben.»
Die Geschichte des Mädchens, das bei Bombeneinschlägen lachte
Gerade Schicksale von Kindern machen Katastrophen wie das Erdbeben in der Türkei und Syrien besonders nahbar. Der Syrer Abdullah al-Mohammed wurde 2020 weltweit bekannt, als er eine kurze Videosequenz teilte, in der seine Tochter Salwa zu sehen ist: Jedes Mal wenn eine Bombe einschlug, lachte das Mädchen. Es dachte, es seien Jungs, die Böller zündeten. So versuchte der Vater, seiner Tochter Salwa die Angst zu nehmen. Die Lage in ihrer Stadt Sarakeb nahe der Rebellenhochburg Idlib wurde immer schlimmer, nahezu täglich flog das Regime von Bashar al-Assad mithilfe der russischen Armee Luftangriffe. Er hatte das Video damals an Freunde verschickt, einer von ihnen lebte in der Türkei und stellte es ins Netz.
Türkische Journalisten besuchten ihn damals zu Hause, kurze Zeit später habe er eine Nachricht bekommen, deren Absender er nicht nennen will. Er solle an die Grenze kommen, ihm werde geholfen. Die türkischen Grenzpolizisten liessen ihn passieren. Damals habe ihn deshalb ein schlechtes Gewissen geplagt, so viele Landsleute, so viele Kinder, die der täglichen Angst weiter ausgeliefert waren. Bis heute ist die türkisch-syrische Grenze bis auf einen Übergang für humanitäre Hilfe Richtung Idlib geschlossen, weshalb internationale Hilfslieferungen nur langsam in die Erdbebengebiete kommen. «Meine kleine Anti-Trauma-Strategie von damals hat uns in die Türkei gebracht», erzählt Mohammed am Telefon. «Hier wollten wir einen Neustart hinlegen. Und nun stehen wir wieder vor dem Nichts.»

Die Familie lebte in den vergangenen Jahren in Antakya, jener historischen Stadt, die nun dem Erdboden gleichgemacht wurde. Mittlerweile wohnt sie in Mersin, rund 300 Kilometer weiter nordwestlich an der Mittelmeerküste. Immerhin: Ausser ein paar Quetschwunden gehe es den Familienmitgliedern den Umständen entsprechend gut, erzählt der 35-Jährige, der erst kürzlich wieder Vater einer Tochter wurde. Nur Salwas Zustand mache ihm und seiner Frau Sorgen. «Nach dem Erdbeben bin ich hilflos. In Syrien konnte ich ihr die Angst nehmen, aber jetzt denkt sie, dass die Wände jederzeit über sie zusammenfallen könnten und wir alle sterben werden», erzählt Mohammed. Salwa ist jetzt sechseinhalb Jahre alt, damals in Syrien war sie erst vier, da habe man ihr noch alles schönreden können.
Tagsüber fühle sich Salwa einigermassen sicher, auch wenn sie am liebsten draussen sei. «Sobald sie mitbekommt, dass ich mich anziehe, krallt sie sich an meinem Bein fest und will mitkommen», erzählt der Vater. Nachts weigere sich das Mädchen einzuschlafen. Am Tag zuvor hätten seine Frau und er eine Stunde lang neben ihr gesessen und hätten sie beruhigt – ohne Erfolg. «Wir haben ihr gesagt: Das Leben muss weitergehen, die Erde wird nicht noch einmal beben. Und selbst wenn: Dann gehen wir zum lieben Gott, und dann wird alles besser», sagt Mohammed.
Wenn er ehrlich sei, dann gehe ihm langsam die Kraft aus. Vor rund einem Jahr sprach Abdullah al-Mohammed bei der kanadischen Botschaft in Ankara vor. Seine Familie und er wollen auswandern, die Lage für Syrer in der Türkei ist schwieriger geworden, die Lira-Krise hat die Stimmungsmache gegen die syrischen Geflüchteten verschärft. Seitdem wartet er auf eine Antwort der Botschaft. «Wir Syrer müssen alles ertragen: Entweder wir werden von einer Bombe zerfetzt, ertrinken im Mittelmeer oder werden unter Schutt begraben. Ich bin am Ende mit meinen Kräften», sagt er. Am liebsten wolle er der Region für immer den Rücken kehren. Das hier sei die Hölle auf Erden. Da gebe es nichts mehr schönzureden.
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