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Oberste Lehrerin zu Homeschooling
«Wer Kinder zu Hause unterrichtet, nimmt ihnen Möglichkeiten weg»

Dagmar Roesler, Praesidentin des Verbands Lehrerinnen und Lehrer Solothurn und ab 01.08.2019 Praesidentin des Schweizer Lehrerverbands portraitiert in einem Schulklassenzimmer der Schule Franziskanerhof am 22. Mai 2019 in Bellach SO. (KEYSTONE/Gaetan Bally)
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Homeschooling liegt im Trend – auch nach der Pandemie. 4160 Kinder in der Schweiz werden zu Hause von ihren Eltern oder einer Lehrperson unterrichtet. Das sind mehr als je zuvor. In Kantonen wie Bern, Zürich, Waadt, Neuenburg oder Luzern steigen die Zahlen kontinuierlich. Hingegen sind manche Kantone wie Zug, Basel-Stadt, St. Gallen oder Uri sehr strikt und bewilligen nur selten Ausnahmen für Homeschooling.

Die oberste Lehrerin Dagmar Rösler fordert nun strengere und einheitliche Regeln für Homeschooling in der Schweiz. Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren solle das Homeschooling-Problem angehen. Rösler, seit 2019 Zentralpräsidentin des Verbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, zeigt sich kritisch gegenüber dem Phänomen und findet, dass die Chancengerechtigkeit gefährdet sei.

Frau Rösler, Sie fordern: Homeschooling soll strikter und schweizweit einheitlicher geregelt werden. Was stört Sie?

Beim Homeschooling finde ich es unlogisch, wenn die Bedingungen von Kanton zu Kanton so unterschiedlich sind. Und die Unterschiede sind ja massiv, mancherorts brauchen die Eltern ein Lehrdiplom, andernorts gibt es kaum Regeln.

Wer soll das Homeschooling vereinheitlichen?

Wenn wir sehen, dass die Zahlen weiter zunehmen und die Kantone Probleme bekunden, muss die Konferenz der Bildungsdirektorinnen und Bildungsdirektoren unter Präsidentin Silvia Steiner das Thema aufgreifen.

In der Schweiz ist es nicht möglich, den Schulen nationale Vorgaben zu machen, weil die Bildungshoheit bei den Kantonen liegt. Warum soll es ausgerechnet beim Homeschooling eine Ausnahme geben?

Es geht hier nicht um Ausnahmen, sondern um einen Bereich, in dem es sinnvoll ist, kantonsübergreifende Regelungen zu haben. Ausserdem gibt es durchaus nationale Vorgaben, zum Beispiel, was die Dauer der Volksschulzeit betrifft oder etwa das Obligatorium des Kindergartens. Persönlich finde ich, dass die Regeln fürs Homeschooling strikt gehalten werden müssen.

Warum ist es Ihrer Ansicht nach wichtig, hier streng zu sein?

Ich finde es richtig, sich nach dem aktuellen Lehrplan zu richten und den Kindern jederzeit Anschlussmöglichkeiten an die Schule zu garantieren. Denn wenn das Homeschooling scheitert, werden einmal mehr die Schulen zur Verantwortung gezogen, die alles wieder ins Lot bringen sollen. So gesehen bin ich für restriktive Massnahmen und relativ strenge Regeln bei den Anforderungen an die Eltern, die ihre Kinder selbst unterrichten wollen.

Könnte die Tendenz zum Homeschooling Ausdruck davon sein, dass die Volksschulen immer mehr zur Belastung werden für viele Kinder?

Es gibt tatsächlich Kinder, die verloren sind in der grossen Heterogenität einer Klasse, die heute üblich ist. Gerade jetzt, wo viele pädagogisch unausgebildete Lehrpersonen vor den Klassen stehen und es oft Wechsel gibt, kann das belastend sein für Kinder. Und es gibt sicher auch Fälle, wo Homeschooling zumindest vorübergehend die richtige Massnahme ist. Aber ich beobachte, dass Eltern teilweise ihren Kindern nicht mehr zutrauen, etwas durchzustehen oder auszuhalten. Und ich spreche hier nicht von Mobbing, Übergriffen oder belastenden Schulsituationen, die es zweifellos gibt und denen man natürlich anders begegnen muss.

Sie meinen also, dass Eltern ihren Kindern die «gewöhnlichen Herausforderungen» zu oft abnehmen?

Ja, Kinder wachsen daran, wenn sie lernen, Schwierigkeiten zu überwinden. In einer Klasse treffen sie auf unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen, sie reiben sich innerhalb ihrer Peergruppe, schliessen Freundschaften und bauen Beziehungen auf. Sie lernen den Umgang mit anderen Ansichten. Ich bin überzeugt: Wer Kinder zu Hause unterrichtet, nimmt ihnen diese Möglichkeiten weitgehend weg.

Homeschooler würden widersprechen und sagen: Das soziale Lernen ist auch zu Hause möglich.

Natürlich lernen Kinder auch in Beziehung mit den Geschwistern, der Familie und den Nachbarn. Doch Homeschooler bleiben trotzdem hauptsächlich unter sich. Auch wenn deren Eltern dies bestreiten, so werden Homeschooler doch etwas von der Gemeinschaft isoliert. Irgendwann müssen die Kinder aber raus ins Leben und wahrscheinlich auf ganz andere Menschen treffen, etwa bei der Arbeit. Und es geht mir bei diesem Thema auch um Chancengerechtigkeit.

Weil sich nicht alle Homeschooling leisten können?

Ja, Homeschooling ist ein Mittelstandsphänomen. Viele Familien sind darauf angewiesen, dass beide Elternteile arbeiten. Oft sind es Mütter, die zu Hause bleiben und die Kinder zu Hause unterrichten. Ich fände es ein schlechtes Zeichen, wenn am Schluss nur noch jene Kinder in die öffentliche Schule gehen, die sonst keine anderen Möglichkeiten haben. Das wäre eine massive Schwächung der Volksschule.