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Analyse zu Homeschooling-Trend
Warum Eltern ihre Kinder aus der Schule nehmen

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Viele Eltern realisierten während des Lockdown im Frühjahr 2020 vielleicht zum ersten Mal, wie herausfordernd es ist, Kinder und Jugendliche zum Lernen anzuleiten. Bei einer kleinen Gruppe von Eltern aber weckten jene Wochen, als die Schulen geschlossen waren, erst recht das Bedürfnis, ihren Nachwuchs daheim zu unterrichten. 

Damit befeuert die Pandemie einen Trend: Eine wachsende Minderheit von Müttern und Vätern nimmt ihre Kinder aus der Schule. Die Zahl der Kinder im Homeschooling ist so hoch wie nie, das zeigt eine Umfrage dieser Zeitung bei den Kantonen. 3406 Schülerinnen und Schüler befinden sich derzeit im Heimunterricht, rund 180 Gesuche sind pendent.

Obwohl im Vergleich zur gesamten Schülerschaft immer noch im Promillebereich, steigen die Zahlen seit Jahren. Im Frühling 2021 waren gemäss einer Erhebung der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren erst 3015 Kinder im Homeschooling. Um den Jahreswechsel, als vielerorts die Maskenpflicht auf Erst- und Zweitklässler ausgeweitet wurde, nahmen die Gesuche in manchen Kantonen nochmals zu. Andere behielten ihre Kinder zu Hause, um sie vor einer Ansteckung zu schützen.

Die Gründe für Homeschooling sind vielfältiger als früher. Damals betraf es oft Familien mit evangelikalem Hintergrund. Heute hingegen genügt manchen Eltern das schulische Niveau in der öffentlichen Schule nicht. Andere führen einen Lebensstil, der nicht mit dem Stundenplan vereinbar ist, etwa weil sie eine lange Reise machen. Eine dritte Gruppe möchte die Kleinsten vor dem getakteten Schulbetrieb schützen und den Eintritt hinauszögern – Homeschooling ist in der Primarstufe verbreiteter. Und bei manchen Kindern ist die Teilnahme am Unterricht wegen psychischer oder gesundheitlicher Probleme unzumutbar. 

Obwohl der heimische Privatunterricht nur einen Bruchteil der schulpflichtigen Kinder betrifft, ist er ein Politikum. Denn er adressiert eine zentrale Frage: Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, der dafür zu sorgen hat, dass alle gleiche Bildung und Betreuung erhalten und mit fairen Chancen ins Leben starten? Oder den Eltern, die am besten wissen, was gut für ihre Töchter und Söhne ist?

Auch Privatschulen werden beliebter

Es gibt zwei Entwicklungen. Auf der einen Seite sinkt das Vertrauen in die Volksschule. In die Bildung und Erziehung ihrer Kinder wollen sich Eltern kaum dreinreden lassen. Sinnbildlich dafür sind neben dem Trend zum Homeschooling Berichte von Lehrerinnen über fordernde Mütter und Väter, die Prüfungsnoten anfechten oder den Einschätzungen der Pädagogen misstrauen. Auch Privatschulen – ihr Anteil steigt ebenfalls langsam, aber kontinuierlich – fordern das Bildungssystem heraus. Verantwortlich dafür sind längst nicht nur überehrgeizige Eltern mit dickem Portemonnaie, sondern auch engagierte Mütter und Väter, die Lernstätten mit alternativer pädagogischer Ausrichtung suchen (oder gleich selber gründen), aus Angst, dass ihre Kinder im konventionellen Schulbetrieb unglücklich werden.

Das ist nicht per se schlecht; es braucht Eltern, die reagieren, sollte ihr Kind im Massenbetrieb Volksschule – was kein Vorwurf ist – untergehen. Unser Bildungssystem profitiert davon, wenn es gegenüber alternativen Lernstrukturen bestehen muss. 

Tina Hascher, Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Bern, plädiert jedoch dafür, schulische Bildung breiter zu sehen: «Eltern unterschätzen manchmal die Rolle von Interaktionen auf dem Pausenplatz und die Schulklasse als soziale Lernstätte.» Und wenn Mütter und Väter ihre Kinder aus der Schule nehmen, um sie zu Hause individueller zu fördern, gibt Hascher zu bedenken: «Eine Eins-zu-eins-Lernsituation ist nicht zwingend besser. Kinder profitieren stark von Gleichaltrigen.» Fragt die Lehrerin beispielsweise, was die Schüler am Wochenende erlebt haben, hört das Kind eine Fülle von Geschichten, die ihm zu Hause am Küchentisch entgehen.

Grundsätzlich steht die Bildungsforscherin dem Heimunterricht eher kritisch gegenüber. «Ich würde Homeschooling niemandem empfehlen, weil durch den engen Fokus auf die Familie die Lerngelegenheiten eingeschränkt sind.» Es gebe aber durchaus Konstellationen – etwa wenn die Familie oft unterwegs ist –, in denen die private Beschulung gerechtfertigt sei. «Sofern es nicht darum geht, das Kind abzuschotten.» Sie hält indes ein Lehrerdiplom für die unterrichtenden Eltern für zwingend – eine Vorgabe, die aber längst nicht alle Kantone machen.

Bei der Schulbildung enden die Elternrechte

Doch nicht nur Eltern engagieren sich stärker für den Bildungserfolg ihrer Kinder, sondern – und das ist die zweite Tendenz – auch der Staat. In den letzten Jahren hat sich in der Schweiz das Konzept der «Politik der frühen Kindheit» etabliert. Dahinter steht das Bestreben, die Kleinsten möglichst früh – oft schon ab Geburt – dem Betreuungs- und Fördersystem anzuvertrauen, um die Chancengleichheit zu erhöhen.

Ausdruck davon sind all die Lernprogramme, Spielgruppen, Elternkurse, die auf lokaler Ebene entstanden sind – nun soll dieser Frühförderungs-Flickenteppich vereinheitlicht werden. Unter anderem prüft der Bund etwa, wie er die frühe Sprachförderung vor dem Kindergarten landesweit umsetzen könnte. 

Hinter dem staatlichen Effort zugunsten der Frühpädagogik stehen auch volkswirtschaftliche Überlegungen: Je jünger das Kind, desto rentabler sind Fördermassnahmen, das zeigen Studien. Denn die Kleinsten lernen schnell – und wenn der Staat später mit Sonderpädagogik und Sozialhilfe eingreifen muss, wird es rasch teuer.

Als Bekenntnis, dass der Staat in Bildungsfragen Verantwortung übernimmt, kann auch ein Bundesgerichtsurteil von 2019 verstanden werden: Damals hielt das oberste Gericht fest, dass Eltern keinen Anspruch auf Homeschooling haben. Es liege in der Kompetenz der Kantone, die Hürden für den Heimunterricht beliebig hoch anzusetzen – und damit unter Umständen faktisch zu verunmöglichen, wie dies etwa Zug, Basel-Stadt oder St. Gallen tun. Konkret: Bei der Schulbildung enden die Elternrechte.

Beide Tendenzen – dass Staat und Eltern je um Bildungskompetenzen ringen – werden sich in Zukunft akzentuieren, und beide haben ihre Berechtigung: Der Staat steht in der Pflicht, Bildung und Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Die Eltern tragen ihren Teil dazu bei, dass sich ihr Kind im Unterricht wohlfühlt. Leidet es in der Klasse, ist es unterfordert oder kommt dem Stoff nicht nach, müssen sie handeln. 

Eltern müssen die schulische Bildung ihrer Kinder nicht bis ins letzte Detail selber in die Hand nehmen.

Was aber beide Lager nicht vergessen sollten: Die wichtigste Förderung, die grundlegendste Bildung findet in der Familie statt. Ihr Einfluss sei «überragend», sagte Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm einmal dieser Zeitung. Vor einigen Jahren hat sie in einer Studie gezeigt, dass externe Betreuung einen weit geringeren Einfluss ausübt als erwartet. Von Kitas und Spielgruppen profitieren am ehesten Kinder aus bildungsfernem Umfeld. 

Eltern dürfen sich also vom Druck entlastet fühlen, die schulische Bildung ihrer Kinder bis ins letzte Detail selber in die Hand nehmen müssen. Man darf ruhig ein wenig Vertrauen in die Volksschule haben – den grössten Gefallen tun Eltern ihren Kindern, indem sie ihnen ein sicheres Zuhause bieten. Bund und Kantone wiederum sollten die ehrlichen Bemühungen vieler Eltern anerkennen, ihren Kindern die bestmögliche Lernumgebung zu bieten. Es reicht nicht, Homeschooling als Spleen übermotivierter Eltern abzutun, wie das oft geschieht. Nötig wäre eine Debatte, welche Berechtigung und Funktion der Heimunterricht haben darf.

Bildungsforscherin Tina Hascher fordert zudem ein übergreifendes Monitoring, da bisher verlässliche Studien zum Homeschooling fehlen. «Wir müssen wissen, wie es den Kindern im Heimunterricht geht. Nur Lernziele zu prüfen, reicht nicht. Fachübergreifende soziale Kompetenzen und Kreativität sind ebenso zentral.»

Am Ende gehe es um die simple Frage: Haben privat unterrichtete Kinder vergleichbare Perspektiven? Auch wenn sie den Dreisatz statt in der Dorfschule am Küchentisch gelernt haben?