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Abstimmung über neue Verfassung
Chile will das Pinochet-Erbe endlich loswerden

Chileninnen und Chilenen demonstrieren für eine neue Verfassung (Santiago de Chile, 22. Oktober). 
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Nicole Kramm Caifal erinnert sich noch, wie alles begann. Es war der 17. Oktober 2019, Kramm sass gerade in einer Fotografieklasse in Santiago. Über ihr Handy flimmerten Bilder und Videos, gedreht in den Metrostationen von Chiles Hauptstadt. Hunderte Menschen sprangen dort über die Drehkreuze, Jugendliche, Erwachsene, selbst brave Senioren. Kaum war ihr Kurs vorbei, lief die 30-Jährige zur nächsten U-Bahn-Station. «Die Stimmung war unbeschreiblich», sagt Kramm und dass ihr sofort klar war, dass die Aktion zwar als Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung begonnen hatte, es längst aber um viel mehr ging.

Tatsächlich: Bald sangen Hunderttausende Menschen im ganzen Land «Chile despertó», Chile ist aufgewacht. Aus einem kleinen Aufstand wurde eine Massenbewegung gegen strukturelle Ungleichheit. Fast genau ein Jahr nach dem Beginn der Demonstrationen gipfelt der Volksaufstand nun in einer Volksabstimmung. Am Sonntag stimmen die Chilenen darüber ab, ob sie sich eine neue Verfassung geben wollen, um damit die abzulösen, die dem Land einst von der Militärdiktatur verpasst worden war und die Chile in ein Versuchslabor des radikalen Neoliberalismus verwandelte. Auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 blieb die Verfassung bestehen, gleichzeitig blieben Rentensystem, Gesundheit, Bildung und selbst Wasserversorgung in privater Hand.

Ein Demonstrant verbrennt die alte, noch geltende Verfassung Chiles. 

Chiles Wirtschaft wuchs konstant, mit ihr aber auch die Ungleichheit. Viele Chilenen sind heute hoch verschuldet und arbeiten gleichzeitig in prekären Jobs. All das, sagt Nicole Klamm, brach sich damals, im Oktober 2019, Bahn. «Die Menschen hatten es satt, erniedrigt zu werden», sagt sie. Wenn am Sonntag die Chilenen über die Schaffung einer neuen Verfassung abstimmen, ist das auch ein Sieg für die Demonstranten.

Die Polizei zielt auf die Augen

Dieser ist aber auch teuer errungen. Chiles Regierung reagierte auf die Proteste im Oktober mit harter Hand. Gepanzerte Polizisten prügelten auf Demonstranten ein, die Stimmung kippte, bald brannten Metrostationen, und Supermärkte wurden geplündert. Das Land befinde sich in einem Krieg, sagte Sebastián Piñera, Chiles konservativer und millionenschwerer Präsident. Die Regierung schickte sogar Soldaten auf die Strassen, ein Affront. Demonstranten zündeten Polizisten an, diese wiederum mischten ätzende Chemikalien in die Tanks der Wasserwerfer und Metallkugeln unter Gummigeschosse. Immer wieder zielten sie damit wohl auch auf Gesichter und Augen von Demonstranten.

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Nicole Kramm spricht nicht gern über jenen 31. Dezember 2019. Zu schmerzhaft, körperlich und seelisch. Kramm und ein paar Kollegen waren damals im Zentrum Santiagos unterwegs. Dann geschah es: Ein Knall, ein brennender Schmerz im linken Auge, Kramm sinkt zu Boden. Im Krankenhaus wissen die Ärzte schon, was los ist. Mehr als 450 Patienten mit teils schweren Augenverletzungen wurden seit Beginn der Proteste dokumentiert. Längst haben sich die Vereinten Nationen wegen Menschenrechtsverletzungen eingeschaltet. Erst jetzt, neun Monate später, stellt sich Kramms Sehkraft wieder her.

Wegen der Pandemie stehen viele vor dem Nichts

Während Kramm behandelt wurde, gingen die Proteste weiter. Auch ein Verfassungsreferendum, das Regierungs- und Oppositionsparteien schon Mitte November beschlossen hatten, konnte sie nicht stoppen. Erst als im März das Coronavirus auch nach Chile gelangte, kamen die Demonstrationen zum Erliegen. Die Regierung verhängte abermals eine Ausgangssperre, und erst schien es so, als ob sie das Virus schnell unter Kontrolle bringen könnte. Dann aber wird Chile zu einem der am schwersten von dem Erreger getroffenen Land der ganzen Region. Viele Menschen mit prekären Jobs stehen wegen Ausgangssperren vor dem Nichts. «Die Pandemie hat noch mal mehr gezeigt, was in diesem Land alles falsch läuft», sagt Kramm.

Die Regierung will an der Macht bleiben

Umfragen sagen voraus, dass die Mehrheit der Chilenen am Sonntag für eine Verfassungsänderung stimmen wird. Wie diese ausgearbeitet werden soll, ist aber noch unklar. Eine Möglichkeit, über die auch abgestimmt wird, ist eine verfassunggebende Versammlung, die andere ein Konvent, in dem auch die Parteien der alten Elite vertreten sind. Die Verfassung, sagt Kramm, sei eine Chance, aber auch eine Gefahr. «Die Regierung will uns glauben machen, dass wir mitbestimmen dürfen», sagt sie. «Am Ende wird sie aber alles versuchen, um ihre Macht zu sichern.»

Am Sonntag werde sie für eine Verfassungsänderung stimmen, gleichzeitig aber auch weiter zu den Protesten gehen. Das Referendum sei kein Ende, sagt Kramm, sondern ein Anfang.