Covid-19 in LateinamerikaAls ob es Corona nie gegeben hätte
In vielen Grossstädten Lateinamerikas verhalten sich die Menschen wie vor der Pandemie. Das könnte zu einer gesundheitspolitischen Katastrophe führen.

An den Stränden von Rio de Janeiro scheint die Pandemie vorbei zu sein. Zumindest in den Köpfen der zahlreichen Menschen, die sich an den kilometerlangen Küstenstreifen von Ipanema oder Copacabana aufhalten. Kinder bauen Sandschlösser, Erwachsene baden in der Sonne oder spielen Volleyball. Kaum jemand hält Abstand oder trägt eine Schutzmaske.
Sogar mobiler als vor der Pandemie
Auch in anderen Grossstädten Lateinamerikas verhalten sich die Menschen fast wieder wie vor der Pandemie. Die Professoren Michael Touchton und Felicia Knaul von der University of Miami haben Bewegungsdaten in der Region systematisch ausgewertet. Die Daten zeigen, dass in fünf Bundesstaaten Brasiliens die Menschen sogar noch mobiler sind als vor der Corona-Krise. «Auch im Bundesstaat Amazonas, der besonders stark betroffen ist», sagt Michael Touchton.
Dieser Befund deckt sich mit der Analyse von Bloomberg. In São Paulo stauen sich die Autos wieder während der Rushhour, der Verkehr in Mexiko-Stadt, der Mitte April auf etwa 14 Prozent des normalen Levels zurückgegangen ist, liegt unterdessen bei 70 Prozent des Vor-Corona-Levels. In Santiago de Chile bewegen sich die Menschen nur 13 Prozent weniger als vor den Corona-Massnahmen.
In Lateinamerika leben acht Prozent der Weltbevölkerung, die Region verzeichnet aber ein Drittel der Infektionen und Todesfälle weltweit.
Natürlich ist der Wunsch nach einer Rückkehr in ein Leben ohne grössere Einschränkungen verständlich. Viele Länder Lateinamerikas haben im März scharfe Lockdowns verhängt. Während langer Monate durften die Bürger ihre Häuser nur dann verlassen, wenn es absolut notwendig war. Viele Beschäftigte im informellen Sektor brachte dies in existenzielle Nöte. Sie arbeiten ohne Vertrag, ohne Arbeitslosenunterstützung oder Krankenversicherung.
In Lateinamerika leben acht Prozent der Weltbevölkerung, die Region verzeichnet aber ein Drittel der Infektionen und Todesfälle weltweit. Die vergangenen Öffnungsschritte gingen nicht mit begleitenden Massnahmen einher. «Viele Länder haben Corona-Restriktionen aufgehoben, ohne die Tests und das Contact-Tracing aufzubauen. Das ist potenziell sehr gefährlich», sagt Felicia Knaul.

Die rasche Öffnung hat jetzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf den Plan gerufen. Die WHO-Regionaldirektorin Carissa Etienne sieht die Lockerungsstrategien in Lateinamerika kritisch. Die Region habe damit begonnen, zum normalen sozialen und öffentlichen Leben zurückzukehren, obwohl weiterhin grosse Eingriffe zur Eindämmung der Pandemie nötig seien. «Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass eine zu frühe Öffnung diesem Virus mehr Raum zur Verbreitung gibt und unsere Bevölkerungen einem grösseren Risiko aussetzt», sagt Etienne.
Felicia Knaul bedauert, dass mit Brasilien und Mexiko ausgerechnet die bevölkerungsreichsten Länder die schlechteste Gesundheitspolitik verfolgen. Sowohl der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro als auch sein mexikanischer Amtskollege Andrés Manuel López Obrador hätten die Gefahren des Virus heruntergespielt, sagt sie.
Risikofaktor Tourismus
Bolsonaro hält weiter an der Behauptung fest, Covid-19 sei nicht gefährlicher als eine Grippe, und propagiert das Medikament Hydroxychloroquin, dessen positive Wirkung gegen das Coronavirus aufgrund der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse unwahrscheinlich ist. López Obrador sagte zuletzt flapsig, erst wenn es keine Korruption im Land mehr gäbe, dann würde auch er einen Mundschutz tragen. Zu Beginn der Pandemie hatte er noch behauptet, dass seine Ehrlichkeit und Amulette, die er von seinen Anhängern geschenkt bekommen hatte, ihn schützen würden.
Carissa Etienne sieht einen weiteren Risikofaktor: den internationalen Tourismus, den viele Länder wieder ankurbeln wollen. Seit Anfang Woche sind internationale Flüge aus einigen Ländern nach Kolumbien wieder möglich. Ab Oktober wird Edelweiss einen Direktflug von Zürich ins mexikanische Cancún anbieten. Etienne warnt, dass die Regierungen den Reiseverkehr sehr sorgfältig überwachen müssten, da eine erneute Öffnung für den Tourismus zu Rückschlägen führen könne. Dies ist in der Karibik geschehen, wo mehrere Länder, in denen es praktisch keine Fälle gab, nach der Wiederaufnahme des Tourismus Spitzenwerte verzeichneten.
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