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Aussenminister mit überraschender Rede
«Ist die Schweiz tatsächlich so gesund, wie wir glauben?»

Bundesrat Ignazio Cassis, Vorsteher des Eidgenoessischen Departements fuer auswaertige Angelegenheiten EDA, spricht an einer Pressekonferenz am International Cooperation Forum (IC Forum) in Basel, am Freitag, 12. April 2024. Das diesjaehrige IC Forum ist dem Thema Frieden gewidmet. (KEYSTONE/Georgios Kefalas)
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Kein anderer Bundesrat musste in den vergangenen Jahren so viel harsche öffentliche Kritik einstecken wie Aussenminister Ignazio Cassis. Das ging nicht spurlos an ihm vorbei. Er lese keine Zeitungen mehr, sagte der FDP-Bundesrat vergangenen September. Im Vergleich zu anderen Bundesräten gibt er der Presse auch seltener Interviews. Das letzte, das auf der Website des Aussendepartements EDA aufgeführt ist, stammt vom Juni 2023.

Das heisst nicht, dass sich Bundesrat Cassis nicht mehr äussert. Er hat einen anderen Kanal für sich entdeckt: die Rede.

Am Dienstag war der Aussenminister ins Zürcher Kongresshaus eingeladen – um an einer Veranstaltung des UBS Center der Uni Zürich zu sprechen. Das Thema: die Schweiz und die Europafrage. Wer eine langweilige Abhandlung über den bilateralen Weg erwartete, lag falsch. Cassis kam zwar später als geplant in Zürich an, lieferte dann aber am Abend nach dem öffentlichen Teil der Veranstaltung eine leidenschaftliche Rede zur Lage der Nation, die das EDA in schriftlicher Form auf seiner Website veröffentlichte.

Cassis: «Der UNO-Sicherheitsrat wenig handlungsfähig»

Zu Beginn fragte Cassis, der auch Arzt ist, rhetorisch: «Ist die Schweiz tatsächlich so gesund, wie wir glauben?» Um dann darzulegen, dass die Schweiz diese Frage nicht beantworten kann, ohne die Geschehnisse auf der Welt zu berücksichtigen. Und die globalen Entwicklungen stufte Aussenminister Cassis als «geopolitische Verschiebungen» ein, die «aussergewöhnliche Unsicherheiten» mit sich brächten.

Der Aussenminister zählte einige davon auf: der Ukraine-Krieg, die Instabilität im Nahen Osten, der Konflikt in Armenien, aber auch die vielen Kriege in Afrika oder der Aufstieg Chinas zu einer globalen Wirtschafts- und Militärmacht.

Die Rede basiere auf den Inputs von Cassis und sei in Zusammenarbeit mit seinen engsten Mitarbeitern entstanden, teilte das EDA auf Anfrage mit. Auf diese Art entstehen die meisten Ansprachen von Bundesräten.

Cassis’ Analyse der geopolitischen Lage war schonungslos: Die neutrale Schweiz finde sich heute in einer Welt wieder, in der alte Sicherheitsgarantien infrage gestellt würden. «Der UNO-Sicherheitsrat ist nur wenig handlungsfähig, und selbst die seltenen erfolgreichen Beschlüsse werden kaum umgesetzt. Die europäische Sicherheitsarchitektur liegt in Trümmern, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist handlungsunfähig.» Und Cassis erinnerte auch daran, dass die Demokratie als Staatsform global eine Ausnahme ist: «Es leben gerade noch 13 Prozent der Weltbevölkerung in liberalen Demokratien.»

Er wolle das Publikum nicht in eine bedrückte, dunkle Stimmung versetzen, sagte der Bundesrat, «aber wir müssen begreifen: Der Welt geht es nicht gut!» Und in der Schweiz beginne man erst, die Folgen davon zu spüren. «Es wird ernst.»

Gefährliche Stimmung

Auch im Inneren der Schweiz diagnostiziert Cassis eine Zeitenwende. Er macht diese am Ja zur 13. AHV-Rente fest. «Ist uns der Gemeinsinn abhandengekommen?», fragte er. Sicher sei, dass aus der Sicht vieler Bürgerinnen und Bürger der Kompass nicht mehr stimme: Boni-Exzesse, Dichtestress, Kaufkraftverlust, Geld für Afrika und die Ukraine, aber für eine 13. AHV-Rente solle es nicht reichen. «Dieses Gemisch führt zu einer gefährlichen ‹Jetzt sind wir mal dran›-Stimmung», so Cassis.

Er machte klar, welchen Weg die Schweiz bei all diesen Unsicherheiten einschlagen müsse: Es stehe ausser Frage, «dass die Schweiz geregelte Beziehungen zur Europäischen Union braucht». Die Schweiz und die EU seien durch gegenseitige, tiefe Abhängigkeiten miteinander verbunden. Die EU sei nicht nur die grösste Handelspartnerin der Schweiz, sondern auch essenziell für die Versorgungssicherheit unseres Landes.

«Der bilaterale Weg mit der EU ist also weit mehr als eine pragmatische Entscheidung», sagte Cassis: «Er ist für den Bundesrat eine strategische Notwendigkeit.»

Der Aussenminister schloss mit einem Appell ans Publikum, in dem auch Politikerinnen und Wirtschaftsvertreter sassen. Der Bundesrat übernehme Verantwortung bei den Verhandlungen mit der EU, sagt er. Aber: Es brauche noch viel Überzeugungsarbeit, um eine Mehrheit der Bevölkerung für das Vorhaben zu gewinnen. «Diese (Überzeugungsarbeit) aufzugleisen, hinzustehen und zu kämpfen, meine Damen und Herren, das liegt hingegen bei Ihnen.»

Erste Reaktionen auf Cassis’ Rede

Ständeratspräsidentin Eva Herzog (SP) hörte Cassis’ Rede vor Ort und zeigte sich erfreut von der Grundsatzrede des Bundesrats. «In dieser Welt, die sich dermassen verändert, braucht es einen Aussenminister, der grundsätzlich über die Rolle der Schweiz nachdenkt», sagte sie.

SVP-Ständerätin Esther Friedli war ebenfalls vor Ort. Cassis habe hauptsächlich die Haltung des Bundesrats in Bezug auf die Aussen- und Europapolitik bestätigt, schrieb sie auf Anfrage. Sie habe daraus keine neuen Erkenntnisse gezogen.