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Der Aussenminister als Wahlkämpfer
«Ich lese keine Zeitungen mehr», sagt Bundesrat Cassis

Berne, le 7 juillet 2022. Interview et portrait d’Ignazio Cassis, Président de la Confédération et chef du Département fédéral des affaires étrangères DFAE.     Photo Yvain Genevay / Le Matin Dimanche
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«Ich bin gekommen, um euch aufzurütteln», sagte Bundesrat Ignazio Cassis vor einer Woche zu einem freisinnigen Publikum in Sant’Antonino, einem Vorort von Bellinzona. «Ich werde euch zwei, drei Dinge sagen, die ich im Tessin nie höre, die es aber wert sind, deutlich gesagt zu werden.»

«Cassis schiesst mit Artillerie auf Journalisten»

Die Brandrede verfehlte ihre Wirkung nicht. Das Tessiner Newsportal «Libera TV» wunderte sich, dass Cassis Anzug und Krawatte eines Bundesrats durch das «Outfit eines Parteichefs» ersetzt habe. Der Präsident des Tessiner Journalistenverbandes, Roberto Porta, schrieb im «Corriere del Ticino», Cassis schiesse «mit Artillerie auf Journalisten».

Die Medien standen allerdings nicht im Zentrum der Rede. Cassis sprach vor allem über den Wahlkampf. Das Video, das in den sozialen Medien kursiert und offensichtlich authentisch ist, zeigt keinen über der Tagespolitik schwebenden Aussenminister, sondern einen freisinnigen Wahlkampf-Motivator, der frei und ohne Skript seiner Partei ins Gewissen redet. Er meinte es ernst, sehr ernst.

Die FDP müsse im Wahlkampf Dinge ansprechen, «ohne Angst, kritisiert zu werden, ohne Angst, sich gegen den medialen Mainstream zu stellen». Sie dürfe sich nicht scheuen, klar zu sagen, «dass diejenigen, die ihre Hände auf die Strasse kleben, kriminell sind und keine moralische Legitimation gegenüber anderen Bürgern haben».

«Sonst sind wir im Wilden Westen»

Niemand dürfe seine eigenen moralischen Ansichten über das Recht stellen. «Sonst sind wir im Wilden Westen.» Der Rechtsstaat schütze alle, vor allem aber die Schwachen und Bedürftigen. Die Starken hätten genügend Mittel, um sich selbst zu schützen.

Dann sprach Cassis als Aussenminister: «Das Völkerrecht schützt uns in der Welt für das, wofür wir stehen.» Das sei wichtig, «denn mit unserer Armee haben wir kaum eine Chance, uns zu verteidigen, also müssen wir uns anders schützen».

Cassis griff auch die SVP und «die Sozialisten» an. Beide Parteien seien für die Polarisierung in der Schweiz verantwortlich. Die SVP betreibe eine Politik der Verunglimpfung der Menschen. Die SP strebe eine Schweiz an, «in der es eine moralische Sünde ist, Wohlstand zu schaffen». Sie strebe eine «massive Umverteilung» an.

Umverteilung führe aber zu Armut. «Wollen wir alle bitterarm sein, um gleich zu sein?», fragte Cassis rhetorisch. «Das wollen wir Liberale nicht.»

«Zeitungen sind nicht gut für mich.»

Ignazio Cassis

Die öffentliche Debatte werde von zwei unversöhnlichen politischen Polen dominiert, fuhr Cassis fort. Die Kompromissbereiten, die Liberalen, würden in diesem medialen Umfeld einfach nicht wahrgenommen. «Deshalb müssen wir Dinge, die uns nicht gefallen, klar und mit der nötigen Gelassenheit sagen, ohne uns von irgendwelchen schwachsinnigen Zeitungsartikeln einschüchtern zu lassen.»

Damit kam Cassis zum Kern seiner Medienschelte: «Ich lese keine Zeitungen mehr. Sie sind nicht gut für mich. Sie helfen mir nicht, die Energie zu finden, um die richtigen Dinge zu tun. Seit ich das nicht mehr tue, bin ich dreimal so schnell.»

Im Tessin ist die Debatte über Cassis’ Brandrede auch nach einer Woche nicht abgeebbt. Am Montag erklärte der Tessiner Schriftsteller Alessio Petralli im «Corriere», Cassis habe «die Orientierung verloren». Zwar werde der freisinnige Bundesrat von den Medien oft kritisiert. «Aber das ist kein Grund, die Zeitungen zu verunglimpfen, die für unsere Demokratie grundlegend bleiben.»