150 Jahre direkte DemokratieWie die Schweiz zur fortschrittlichsten Verfassung der Welt kam
Am 19. April 1874 machte die Schweiz den entscheidenden Schritt zum Staat, wie wir ihn kennen. Wie kam es dazu? Die faszinierende Geschichte eines Meilensteins.
Wann wurde die Schweiz zur Schweiz, die wir kennen? Zur Schweiz, die wir schätzen und ehren – und oft auch etwas überhöhen? Zum Land der direkten Demokratie, der vierteljährlichen Abstimmungen, der Referenden und Volksinitiativen?
Zu unserer Schweiz?
Die zweite Geburt der Schweiz – in zehn Kapiteln.
Die erste Geburt fand am 12. September 1848 statt, als die allererste Bundesverfassung in Kraft trat. Aus einem losen Bund von 25 souveränen Kantonen wurde ein moderner Staat – mit einer handlungsfähigen Regierung, dem Bundesrat, und einem Zweikammerparlament, bestehend aus National- und Ständerat. 1848 – das ist der Big Bang der modernen Schweiz. Mit entsprechend viel Pomp feierte das Bundesparlament im letzten Herbst ihren 175. Geburtstag.
Doch die Schweiz war 1848 nicht fertig – aus heutiger Sicht fehlte ihr der Kern. Ihr fehlte das Herz. Die direkte Demokratie. (Hören Sie unseren Podcast dazu: Wie die Schweiz vor 150 Jahren zur fortschrittlichsten Verfassung der Welt kam)
Damit die Schweiz so wurde, wie wir sie heute kennen, brauchte es eine zweite Gründung: eine Totalrevision der ersten Bundesverfassung. Genau heute vor 150 Jahren wurde diese zweite Verfassung in einer Volksabstimmung angenommen, am 19. April 1874.
Schon die Schweiz von 1848 war eine demokratische Republik – und trotzdem hatte das gemeine Volk wenig zu sagen. Schon bald nach der Staatsgründung begann sich eine Oligarchie herauszubilden: die «Bundesbarone», wie man sie nannte.
Der Baron aller Barone war Alfred Escher. Die Zürcher Überfigur war 34 Jahre lang Nationalrat – und daneben teilweise gleichzeitig Zürcher Regierungsrat, Chef mehrerer Bahnunternehmen, Gründer der Credit Suisse und der Rentenanstalt (heute Swiss Life) sowie der ETH. Weitere Machtposten besetzte Escher mit Männern seines Vertrauens. Das breite Volk war für diese Machtelite eine tumbe Masse, der man nicht zu viel Mitsprache zugestehen wollte.
Mit den Jahren wurde der Unmut gegen das «System Escher» immer grösser. Das aufstrebende Bürgertum – Bauern, Lehrer, Gewerbler, Ärzte und Beamte, aber auch Fabrikarbeiter – verlangte mehr Mitsprache. Diese Bürger (heute würde man vom Mittelstand sprechen) durften zwar den Nationalrat wählen (schon bei den Ständeräten hörte ihre Mitsprache auf; sie wurden vielerorts von den Kantonsparlamenten bestimmt). Zwischen den Wahlen hatten einfache Bürger aber nichts zu sagen.
Und viele Menschen hatten nicht einmal das Wahlrecht – Frauen sowieso nicht, aber auch Armengenössige, psychisch Kranke oder «Sittenlose» hatten keine politischen Rechte. Direkte Demokratie? Gab es in dieser Schweiz nicht.
Wie so oft in der Schweiz begann die Innovation unten. Schon ab den 1830er-Jahren begannen einzelne Kantone mit direktdemokratischen Instrumenten zu experimentieren – mit dem sogenannten Volksveto und dem Gesetzesreferendum.
In den 1860er-Jahren formierte sich eine demokratische Bewegung, die für mehr Volksrechte auch auf Bundesebene kämpfte. Mit grossen Demonstrationen, Petitionen und Kampfschriften erhöhte sie laufend den Druck auf die «Bundesbarone». Auch einzelne Zeitungen schrieben vehement für eine Bundesreform an – an vorderster Front etwa der Berner «Bund» und der Winterthurer «Landbote», die heute unter dem Dach von Tamedia erscheinen.
Josef Lang, Historiker und ehemaliger Nationalrat der Grünen, sieht zwei Gründe für die Entstehung der direkten Demokratie in der Schweiz: die Tradition der Landsgemeinde und Ideen aus der Französischen Revolution. Wo welcher Einfluss grösser war, kam ganz auf den Kanton an. Im Deutschschweizer Osten war es die Landsgemeinde, in der Romandie die Französische Revolution.
Einen eigentlichen Anführer hatte die demokratische Bewegung nicht. Ihre Vordenker kamen aus allen Ecken des Landes, etwa der Bündner Politiker und «Bund»-Chefredaktor Florian Gengel, der Basler Nationalrat Wilhelm Klein, der St. Galler Linksfreisinnige Friedrich Bernet, der Zürcher Frühsozialist Karl Bürkli oder Salomon Bleuler, der Chefredaktor des «Landboten».
Nicht nur der Club der «Bundesbarone» provozierte Widerstand, sondern auch die römisch-katholische Kirche. Schon die 1848er-Verfassung wurde gegen den Widerstand der katholischen Kantone erkämpft (Stichwort Sonderbundskrieg). Danach spitzte sich der Kulturkampf zwischen säkular-demokratischen Kräften und Rom-treuen Katholiken weiter zu. Der Höhepunkt wurde 1870 erreicht, als Rom die Unfehlbarkeit des Papstes erklärte (und der Papst selber die Schweiz als «Synagoge des Satans» bezeichnete).
In der jungen Schweiz übte diese Kirche quasistaatliche Funktionen aus – sie führte religiöse Schulen, bestimmte, wer wen heiraten durfte, kontrollierte Zivilstandsregister und Friedhöfe.
Ein weiteres Malaise offenbarte sich 1870 und 1871, als die Armee während des Deutsch-Französischen Krieges die Grenze beschützen sollte, aber in desolatem Zustand war. Die Kantone, für das Militärwesen zuständig, hatten Ausbildung und Bewaffnung ihrer Truppen sträflich vernachlässigt. Auch in weiteren Bereichen zeigte sich, dass die Kantone noch viel Macht hatten und der Bund wenig.
Die «Bundesbarone», der Streit mit Rom, die desolate Armee: Das sind die Ingredienzen, die dazu führten, dass Bundesrat und Parlament 20 Jahre nach 1848 eine Totalrevision der Verfassung anpackten. Der Bundesstaat sollte gestärkt, der Einfluss der katholischen Kirche zurückgedrängt, das Militär zentralisiert werden. Doch der erste Entwurf war überladen. 1872 scheiterte er in der Volksabstimmung an der kumulierten Opposition von Katholisch-Konservativen und (reformierten) welschen Föderalisten, die sich gegen einen zu starken Zentralstaat wehrten.
Doch die Ablehnung war recht knapp. Und so nahmen die Reformer sofort einen neuen Anlauf. Eine neue Verfassungsversion kam den Bedenken vieler Romands entgegen – und verschärfte dafür die gegen die katholische Kirche gerichteten Bestimmungen. Am 19. April 1874 wurde erneut abgestimmt. Und jetzt sagte eine Mehrheit von Volk und Ständen Ja zur totalrevidierten Bundesverfassung. Neun katholische Kantone werden überstimmt.
Die zweite Gründung der modernen Schweiz war vollbracht.
Direkte Demokratie. 30’000 (heute 50’000) Bürgerinnen und Bürger können gegen jedes Gesetz das Referendum ergreifen und so eine Volksabstimmung erzwingen. Die Schweiz wird so von einer repräsentativen zu einer halbdirekten Demokratie (die eidgenössische Volksinitiative wird erst 1891 eingeführt).
Religionsfreiheit für alle. Erst jetzt werden Schweizer jüdischen Glaubens den Christen vollständig gleichgestellt.
Anti-Kirche-Paragrafen. Mehrere Bestimmungen richten sich explizit gegen die katholische Kirche. Die Errichtung neuer Klöster wird ihr verboten; die Gründung neuer Diözesen der Genehmigung des Bundes unterstellt; das schon seit 1848 bestehende Jesuitenverbot verschärft.
Armee. Die Militärgesetzgebung wird zentralisiert. «Jeder Schweizer ist wehrpflichtig», dekretiert die neue Verfassung.
Zivilstandswesen. Die Zivilehe wird eingeführt, Zivilstandsangelegenheiten und auch die Friedhöfe werden zur Staatssache.
Volksschule. Die Schulpflicht wird erstmals schweizweit durchgesetzt. Die Kantone müssen für «genügenden» und unentgeltlichen Primarunterricht sorgen, «der ausschliesslich unter staatlicher Leitung stehen soll».
Justiz. Ein ständiges Bundesgericht mit Sitz in Lausanne wird eingerichtet. Die Todesstrafe wird abgeschafft (und nur 5 Jahre später wieder erlaubt).
Wirtschaftsfreiheit. Die Handels- und Gewerbefreiheit wird erstmals als Grundrecht garantiert und begünstigt die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.
Die Verfassung von 1874 habe die Schweiz «weit vorangebracht in Richtung nationaler Einheit», sagt Andreas Kley, Professor für Staatsrecht und Verfassungsgeschichte an der Universität Zürich. Vorbildlich sei sie aber in mehreren Punkten nicht gewesen. So wurde die Diskriminierung der Juden nur auf Druck des Auslands beendet. Dafür seien die Katholiken mit den scharfen Kulturkampfartikeln «an den Rand gedrängt» worden.
Josef Lang streitet nicht ab, dass diese Artikel diskriminierend waren – aber die katholische Kirche habe damals einen fundamentalistisch-antiliberalen Kurs verfolgt. «Es waren illiberale Massnahmen eines kämpferischen Liberalismus.»
Doch sie hatten ungewollte Konsequenzen. Zum einen waren diese Artikel lange identitätsstiftend – und mobilisierend – für den politischen Katholizismus. Und zum anderen unterschätzte die demokratisch-radikale Mehrheit, die die Verfassung durchgedrückt hatte, die Kraft ihrer eigenen Schöpfung.
Das neu geschaffene Volksrecht ermöglichte es den Katholisch-Konservativen in den Folgejahren, die Bundespolitik mit «Referendumsstürmen» zu blockieren. So zwangen sie die Liberalen 1891, mit Josef Zemp den ersten Katholisch-Konservativen in den Bundesrat zu wählen. «Die Absicht hinter der 1874er-Verfassung war Ausgrenzung, im Effekt wirkte sie aber integrierend», sagt Kley. So ermöglichte die neue Verfassung langfristig die Entstehung der Konkordanzdemokratie, bei der alle wesentlichen politischen Kräfte im Bundesrat sitzen.
Alles gut also? Fast. Manche Historikerinnen und Historiker nennen die Verfassung von 1874 die damals «fortschrittlichste Verfassung» der Welt. Aber sie hatte Mängel – über die (intergrierende) Diskriminierung der Katholiken hinaus.
Die Schweiz kannte in dieser Verfassung noch kein Proporzwahlrecht, das entscheidend war, um auch kleinere politische Kräfte einzubinden (es wurde erst 50 Jahre später eingeführt). Und die Frauen spielten keine Rolle. Ein mögliches Frauenstimmrecht war bei der Revision nie wirklich ein Thema gewesen. Zumindest in diesem Punkt bewiesen die Verfassungsväter eine gewisse Konsistenz (die eher an Sturheit erinnert). Bis auch die Frauen Teil der Schweizer Demokratie wurden, sollte es noch einmal fast 100 Jahre dauern.
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