175 Jahre moderne SchweizDas Parlament feiert die Verfassung – und am Schluss sind SVP und Frauen hässig
Die Feier zum 175-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung wurde unerwartet politisch. Viele störten sich an der Inszenierung der Feier. Für einen Festakt war die Unzufriedenheit erstaunlich gross.
Es war eine seiner letzten Reden als Bundesrat, und es war eine seiner besten. Eine seiner ernsthaftesten auch. Zumindest seit Corona.
Vielleicht hatte es mit der Erwartungshaltung des Publikums zu tun. Denn diese war nach den getragen-patriotischen Vorreden (fast ausschliesslich von Männern gehalten) während dieses Festakts zum 175-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung nicht mehr ganz so hoch. Nationalratspräsident Martin Candinas fragte sich, was dem Schreiber der Bundesverfassung (das Original war während des Festakts im Nationalratssaal ausgestellt) wohl durch den Kopf gegangen sei, als er die 114 Artikel niedergeschrieben habe.
«War er sich deren Wert bewusst?» Ständeratspräsidentin Brigitte Koller-Häberli ergänzte, ebenfalls sehr gefasst, dass das politische System der Schweiz einer Waage gleiche. Und der Aargauer Regierungsrat Mark Dieth, Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen, sagte dreimal, dass die Stärke der Schweiz die «Einheit in der Vielfalt» sei. Einmal, zweimal, dreimal.
Alles würdig und patriotisch (dazu passend auch die Anwesenheit von Delegationen aus sämtlichen Kantonen), aber eben auch nicht sehr mitreissend.
«Ein Akt der Zukunftseroberung»
Dann kam Bundespräsident Alain Berset. «Die Gründung der modernen Schweiz war ein Wurf. Ein Akt der Zukunftseroberung. Ein scharfer Kontrast zu dem, was wir heute erleben. Dem vorsichtigen Verwalten des Status quo.»
Dass Berset selber die vergangenen zwölf Jahre zu den vorsichtigen Verwaltern des Status quo gehört hat – geschenkt. Er sprach kurz und prägnant und auf den Punkt. Der Aufbruch von 1848 lasse erkennen, was die liberale Demokratie im Kern sei, sagte Berset: die Staatsform des Optimismus, des Fortschrittswillens, der «unverrückbaren Überzeugung, dass der Rechtsstaat zu den grössten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte zählt».
Und das gelte eben auch noch heute. Im Umgang mit Reformen. Mit Krisen. Fortschritt ist möglich, eine bessere Zukunft ist möglich. «Vive la constitution. Vive la Suisse.»
Die Frauen singen
Kaum jemand war so politisch in seiner Rede wie der Bundespräsident. Yves Donzallaz, der Präsident des Bundesgerichts, noch am ehesten. Donzallaz, der 2020 im Streit aus der SVP ausgetreten war, nutzte die ungewohnte Bühne, um laut über die nächste Verfassungsrevolution nachzudenken: über eine Aufwertung des Bundesgerichts zum Verfassungsgericht. Das Gros von Donzallaz’ Ex-Partei applaudierte nicht einmal höflich. Vielleicht hatten sie es auch gar nicht mitbekommen – Donzallaz sprach so unaufgeregt (so monoton), und das erst noch auf Französisch, dass ihm nicht viele zu folgen schienen.
Mehr Resonanz erhielten die kulturellen Zwischenspiele, die vor allem von Frauen bestritten wurden, von Phanee de Pool aus Biel etwa, von Ursina Giger, die in der Surselva aufgewachsen ist (und Romanisch sang), oder von Nina Dimitri und Silvana Gargiulo aus dem Tessin. «Immerhin dürfen Frauen singen», schrieb SP-Nationalrätin Tamara Funiciello auf Twitter.
Ja, dieser Festakt war in all seiner Lauwarmheit auch etwas politisch. Links nervte man sich über das Verhältnis von Mann und Frau und Auslassungen der offiziellen Geschichtsschreibung (was die Rechte der normalen Bürgerinnen und Bürger angeht, beispielsweise). Und dass – mit Ausnahme von Häberli-Koller – bloss Männer redeten, acht, um genau zu sein. «Das geht einfach nicht mehr, wenn man von Verfassung und Demokratie redet», meinte die grüne Fraktionschefin Aline Trede. Rechts ärgerten sich die Parlamentarier über die Einlage von Kabarettist Joachim Rittmeyer. Also, es ärgerten sich jene, die überhaupt da waren.
Leere Stühle bei der SVP
Fünf von sechs Fraktionen waren nahezu vollständig anwesend. Doch bei der SVP blieben zehn Sessel leer, etwa jene von Roger Köppel, Thomas Matter und Magdalena Martullo-Blocher. Parteipräsident Marco Chiesa schlich erst nach der Hälfte der Veranstaltung in den Saal.
Fraktionschef Thomas Aeschi übernahm die Rolle der abwesenden SVPler (das macht er öfter). Als Rittmeyer die Gäste im Nationalratssaal in seiner Rolle als eben erst eingebürgerter Ungar Jovan Nabo davon überzeugte, eine Hymne mit einem angepassten Text zu singen («Fifa-Steuer null, dreissig Bauern im Parlament»), da erhob sich Aeschi (als Einziger im Saal) und sang aus voller Brust dagegen an, mit dem richtigen Text natürlich. Der Psalm sei verhunzt worden, schrieb er später auf Twitter.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Aeschi war nicht der Einzige, der sich ärgerte. Beim guteidgenössischen Apéro riche meinte der Bündner FDP-Ständerat Martin Schmid, die Gesangseinlagen seien hervorragend gewesen, nicht aber die Inszenierung des Anlasses «mit Scherzen und so». Das passe nicht ins Bundeshaus. «Der Festakt hat die Institutionen zu wenig ernst genommen.» Das hörte man einige Male. Parlamentarier störten sich an der Moderation der beiden Clowns Gilbert und Oleg, sie störten sich an der fehlenden Fliege (!) von Claude Longchamp, der einen historischen Abriss vortrug, sie störten sich an so einigem.
EVP-Nationalrat Marc Jost spürte schon während des Anlasses, dass weder die Rechten noch die Linken zufrieden waren. Ihm selber habe der Festakt gefallen, «weil in allen Beiträgen eine grosse Wertschätzung der Bundesverfassung zum Ausdruck kam». Die grüne Ständerätin Maya Graf sagte: «Wenn man selbstbewusst ist, kann man auch selbstironisch sein.»
1848 meets 1291
Inhaltlich stand der Festakt im maximalen Kontrast zum Gebäude, in dem er stattfand. Mit Scherzen und ohne Scherze. Das Haus, das ohne die Ereignisse von 1848 nie erbaut worden wäre, erzählt eine ganz andere Schweizer Geschichte. Nie wurde das offensichtlicher als an diesem Morgen.
Hinter all den Rednern (und der einzigen Rednerin), die anderthalb Stunden lang die Verfassung von 1848 beschworen, wird die ganze Wand von einem Riesengemälde eingenommen: Sie zeigt das Rütli.
Rechts und links davon überblicken zwei Statuen den Nationalratssaal. Sie zeigen nicht Ulrich Ochsenbein oder Henri Druey oder einen anderen der Verfassungsväter, sondern: Wilhelm Tell und Gertrud Stauffacher, die angebliche Ehefrau eines der angeblichen Rütlischwurteilnehmer.
Kaum war der offizielle Festakt vorbei, posierten die kantonalen Delegationen für Erinnerungsfotos: vor den drei Eidgenossen, die die Eingangshalle dominieren. Nationalrat Stefan Müller-Altermatt (Mitte) knipste zuerst die Solothurner und dann die Luzerner Delegation. Auf den Einwurf, dass die drei Eidgenossen an diesem Tag das historisch völlig falsche Sujet seien, konterte Müller-Altermatt: «Zeigen Sie mir in diesem Haus irgendetwas, das an 1848 erinnert.»
Spoiler: Es gibt fast nichts.
Unter Eidgenossen
Das Parlamentsgebäude wurde 1902 eingeweiht, zu einer Zeit, als die Politik immer noch bemüht war, die (für die Verlierer) schmerzvolle Erinnerung an den Sonderbundskrieg zu verdrängen. Da kamen der Rütlischwur und Tells Tyrannenmord gerade recht. Es ist die einfachere Geschichte als jene von 1848.
Doch in den letzten Jahren gewann die Geschichte von 1848 auch im Bundeshaus subtil an Boden gegen die 1291er-Mythen. Seitdem 2008 der neue Besuchereingang eingeweiht wurde, hängt dort die riesige Dufourkarte, die erste moderne Kartografierung des Landes, eine der ersten Taten des jungen Bundesstaats und die zweite grosse Leistung von General Guillaume Henri Dufour, der die siegreichen Truppen gegen den Sonderbund angeführt hatte.
2012 hielt Hansjörg Walter (SVP) als erster Nationalratspräsident am 12. September eine Ansprache zur Bedeutung der Bundesverfassung. Seither tun es ihm alle Ratspräsidentinnen und -präsidenten gleich.
Das Geschenk zum Geburtstag
In Zukunft werden sie diese Ansprachen an einem Ort halten, der auch physisch ein bisschen mehr an die Jetztzeit erinnert. Punkt 18.48 Uhr wurde die neue Fassade des Parlamentsgebäudes enthüllt. Ein Mosaik aus 246 glasierten Keramikkacheln, vom Künstlerduo Renée Levi und Marcel Schmid entworfen, dekoriert neu das Tympanon, das dreieckige Giebelfeld unter dem Dach: eine Kachel pro Parlamentsmitglied.
Das Kunstwerk heisst «Tilo», benannt nach Tilo Frey, die 1923 in Kamerun geboren wurde und 2008 in Neuenburg starb. 1971 war Tilo Frey eine der ersten zwölf Frauen, die ins Parlament gewählt wurden – und zugleich die erste Volksvertreterin mit dunkler Hautfarbe.
«Tilo» wacht also künftig über dem Bundeshaus, über den drei Eidgenossen und über jenem Saal, in dem über sämtliche Dinge gestritten wird, die man sich denken kann. Manchmal sogar über die Bundesverfassung.
Fehler gefunden?Jetzt melden.