175 Jahre VerfassungDas unfertige Wunder von 1848
Die Schweiz feiert gerade das Jubiläum ihrer Verfassung. Dabei geht vergessen, dass 1848 ein zentrales Element der Schweizer Politik fehlte: die direkte Demokratie.
Ohne Karl Bürkli wäre die Schweiz nicht das, was sie heute ist. Oder vielleicht gäbe es sie gar nicht mehr – untergegangen in gewaltsamen Revolutionen, einverleibt von fremden Mächten.
Diesen Eindruck gewinnt, wer die neue Bürkli-Biografie liest, die der Journalist und Historiker Urs Hafner über den Zürcher Frühsozialisten, Politiker und Kneipenwirt geschrieben hat.
Hafner sagt: «Volksinitiative und Referendum, die heute Teil der Bundesverfassung sind und zum Selbstverständnis der modernen Schweiz gehören, gehen auf Bürklis Politik zurück.» Dennoch geriet Karl Bürkli nach seinem Tod 1901 weitgehend in Vergessenheit.
Das Wunder von 1848
Nicht nur er. In den Jubiläumsfeiern zu 175 Jahren Bundesverfassung geht ein wichtiges Detail unter: Die Verfassung von 1848 hatte ein erkleckliches Demokratiedefizit.
Sie war zwar ein «politisches Wunder», wie der Freiburger Historiker Urs Altermatt schreibt: «Die Schweiz war das erste europäische Land, in dem ein nach liberal-demokratischen Grundsätzen aufgebauter Staat verwirklicht wurde.»
Aber: Der Bundesstaat von 1848 war eine weitgehend repräsentative Demokratie, in der die Macht im Staat allein bei den gewählten Parlamentariern und Bundesräten lag. Altermatts Zürcher Kollege Jakob Tanner formuliert es so: «Das 1848 eingeführte Repräsentationsprinzip sicherte die politische Dominanz der Wirtschaftsliberalen.»
«Die Mehrheit der Bevölkerung war für diese Kreise eine ‹Masse›, vor deren ‹Pöbelherrschaft› man sich fürchtete.»
Der Bundesstaat von 1848 wurde vom Unternehmer und Politiker Alfred Escher geprägt, dem Gründer der Credit Suisse, Schöpfer der Gotthardbahn, Initiator der ETH, Zürcher Regierungsrat, Nationalrat und, und, und. «Er förderte eine turbokapitalistische, international vernetzte Entwicklung der Schweiz zur Industrienation», sagt Tanner.
Der ehemalige Zürcher SP-Nationalrat Andreas Gross hat soeben ein Buch über den Kampf um die Einführung der direkten Demokratie geschrieben. Für Escher habe das Volk nur aus den Wohlhabenden und Gebildeten bestanden: «Denn die Mehrheit der Bevölkerung war für diese Kreise eine ‹Masse›, vor deren ‹Pöbelherrschaft› man sich fürchtete.»
Die Wirtschaftsliberalen seien davon überzeugt gewesen, dass diese «Masse» dem von ihnen angestrebten Fortschritt im Wege stehen, ihn verkennen würde. Deshalb sorgten sie laut Gross dafür, dass die einfachen Bürger zwischen den Wahlen von politischen Entscheidungen ausgeschlossen blieben.
Nicht reif für die direkte Demokratie
Ganz andere Akzente setzt ein anderer Historiker: Joseph Jung, der Biograf Alfred Eschers. Er sagt: «Verstehen Sie mich richtig, ich bin ein grosser Anhänger der direkten Demokratie. Aber 1848 wäre sie das falsche Rezept gewesen und hätte die Erfolgsgeschichte des jungen Bundesstaates verunmöglicht.»
Denn nur mit Escher und den mit ihm verbündeten Industriellen und Grosskapitalisten an den Schalthebeln der Macht sei die Modernisierung der Schweiz möglich gewesen. «Der bis heute wichtigste Entscheid des Bundesparlaments war 1852, als Bau und Betrieb der Eisenbahnen der Privatwirtschaft überlassen wurden. Nur so konnte innert kürzester Zeit das ganze Land erschlossen werden.»
«In den ‹goldenen› 1850er- und 1860er-Jahren wurden die materiellen Grundlagen für die moderne Schweiz gelegt.»
Die Schweiz hatte im Bahnprojekt die anderen europäischen Länder rasch überholt. Die Eisenbahn war die Schlüsseltechnologie für die Entwicklung eines Staates. In der Schweiz war sie die Grundlage für die Industrialisierung und den Tourismusboom. Beides schuf Arbeitsplätze und Wohlstand in der Schweiz. «In den ‹goldenen› 1850er- und 1860er-Jahren wurden die materiellen Grundlagen für die moderne Schweiz gelegt», sagt Jung.
Dies sei nur möglich gewesen, weil das «System Escher» politische und wirtschaftliche Macht in sich vereinte und extrem schnell entscheiden konnte. Eine Volksabstimmung brauchte Escher nicht zu fürchten.
In der Tat bestand im jungen Bundesstaat im Vergleich zu heute ein Demokratiedefizit. Andererseits war es für Jung ein Glück, dass Escher und andere wirtschaftsliberale Grossbürger an den Schalthebeln der Macht sassen: Sie trafen ihre politischen Entscheide nicht nur im eigenen Interesse, sondern im Interesse der ganzen Schweiz und ihrer wirtschaftlichen Entwicklung.
«Wären die Mehrheiten in diesem historischen Zeitfenster aber konservativ oder sozialistisch gewesen, wäre die repräsentative Demokratie für das Land zur Katastrophe geworden.»
Wegen dieses Risikos ist für Jung die direkte Demokratie langfristig das solidere und freiheitlichere System.
Direktdemokrat Bürkli
1848 gab sich die Schweiz ihre Verfassung, Alfred Escher wurde erstmals in den Nationalrat gewählt. Zur gleichen Zeit kehrte Karl Bürkli nach seinen Lehr- und Wanderjahren nach Zürich zurück. Aus Frankreich brachte er nicht nur den Sozialismus mit, sondern auch eine neue Idee, die der Philosoph Victor Considerant «direkte Demokratie» nannte.
Urs Hafner schildert in seiner Biografie, wie Bürkli zu politisieren begann und die Einführung von Volksinitiative und Referendum zu seinem Ziel erklärte. Dafür wurde er von Escher und seinen Kreisen angefeindet. Die «Neue Zürcher Zeitung» schrieb, die direkte Demokratie würde sich «wie ein Schlingkraut in den Staat hineinranken, um die besten Kräfte des Baums zu verschlingen».
Da war das wirtschaftsliberale Blatt aber für einmal mit Karl Marx einig. Der Begründer des Marxismus hielt diese «reine Demokratie» für «unmöglich und absurd».
Bürkli liess nicht locker. Er wurde in den Zürcher Verfassungsrat gewählt, wo er die direktdemokratischen Elemente erfolgreich einbrachte. Auf seinen Vorschlag hin wurden in der neuen Kantonsverfassung nicht nur Volksinitiative und Referendum eingeführt, sondern auch die Einzelinitiative. Damit kann ein einzelner Bürger (aber natürlich keine Bürgerin) ein Anliegen anstossen.
Die Verfassung wurde 1869 vom Volk angenommen. Sie diente als Vorbild für die direktdemokratische Reform bei der Totalrevision der Bundesverfassung 1874.
Soziale Frage und direkte Demokratie
Wie zentral Bürkli für die direkte Demokratie war, sehen andere Historiker kritischer als sein Biograf Hafner. Jakob Tanner sagt: «Ich bin skeptisch gegenüber einer personalisierenden Geschichtsschreibung, die Alfred Escher zum Inbegriff der schweizerischen Industriemoderne und – als Antithese dazu – Karl Bürkli zum Hauptakteur der direkten Demokratie stilisiert.»
Die privatwirtschaftlich dominierte Modernisierung nach 1848 habe die Arbeiterschaft und die Landwirtschaft «schutzlos der Wucht des sozioökonomischen Wandels ausgesetzt», so Tanner. Massenarmut und Auswanderung seien die Folge gewesen. «Die Befürworter der direkten Demokratie wollten diesen Veränderungsdruck sozialpolitisch abfedern.»
«Die von Karl Bürkli propagierte Synergie von direkter Volksgesetzgebung und Sozialreform war zukunftsweisend.»
Laut Tanner hatte Karl Bürkli mit der Auffassung recht, dass die Zeit für die direkte Demokratie schon Mitte des 19. Jahrhunderts reif war: «Die von ihm propagierte Synergie von direkter Volksgesetzgebung und Sozialreform war zukunftsweisend.»
«Die Früchte des Wachstumsschubs, den die Gründung des Bundesstaates auslöste, kamen nur wenigen zugute, die ohnehin schon privilegiert waren», sagt Andreas Gross. Das habe den Boden für eine eigentliche Revolte bereitet, die dann zu direkt- und sozialdemokratischen Verfassungskorrekturen führte.
Direkte Demokratie nicht idealisieren
Haben die direktdemokratischen Reformen von 1874 die Bundesverfassung also perfekt gemacht? Jakob Tanner schränkt ein: «Aus historischer Sicht ist es wichtig, die direkte Demokratie nicht zu idealisieren.» Andreas Gross ergänzt: «Das Proporzwahlrecht und vor allem das Frauenstimm- und -wahlrecht fehlten noch immer.»
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