Prozess in LausanneQuerdenker fallen vor Bundesgericht durch
Das Bundesgericht musste heute darüber befinden, ob die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie gegen die Bundesverfassung verstiessen. Das Verdikt war eindeutig.

Die kleine Gruppe, die sich am Donnerstagmorgen vor dem Bundesgericht in Lausanne versammelte, erinnerte an die Zeit der Pandemie. Von «Diktatur» war in Gesprächen die Rede und von «Plandemie». Damals kam es fast wöchentlich zu Demos oder Spaziergängen, um gegen die Corona-Einschränkungen zu protestieren.
Ein Echo aus den Pandemiejahren war auch die Frage, über die das Bundesgericht an diesem Morgen zu urteilen hatte: Waren die vom Bundesrat beschlossene Maskenpflicht, die Kontaktbeschränkungen oder das Impfzertifikat rechtens? Für die meisten Schweizer Bürgerinnen und Bürger scheint diese Frage heute nur noch wenig Belang zu haben.
Anders sehen das nicht nur einige der hier rund zwei Dutzend Anwesenden, sondern insgesamt 10’000 Unterzeichnende, die 2022 gegen den Bundesrat eine sogenannte Staatshaftungsklage eingereicht haben. Der Bundesrat hat die Klage abgewiesen, worauf die Unterzeichnenden sich ans Bundesgericht wandten.
«Wir Menschen» prangern Massnahmen an
Ein fast 100-seitiges Papier des Vereins «Wir Menschen», verfasst 2022 von zwei Anwälten, soll darlegen, dass durch die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie die Bundesverfassung verletzt worden sei. Kurz zusammengefasst heisst es darin: Eine übertragbare Krankheit im Zusammenhang mit dem Virus sei nicht nachgewiesen, das Epidemiengesetz könne entsprechend auch nicht als Rechtsgrundlage für die Massnahmen herangezogen werden. Die Klägergemeinschaft forderte vom Staat einen symbolischen Schadensersatz von einem Franken pro Klägerin und Kläger.
Eine der federführenden Personen hinter der Klage war unter anderem ein in der Pandemie bekannt gewordener pensionierter Anwalt. In den massnahmenkritischen Kreisen hat er sich mit ungültigen Rechtsattesten einen Namen gemacht. Diese hätten angeblich vor der Maskentragpflicht entlasten sollen, brachte denen, die das Dokument vorwiesen, aber meist nur Bussen ein. Dies belegen Gerichtsentscheide zu Verstössen gegen die Covid-Verordnung. Am Prozess in Lausanne war der Anwalt nicht anwesend.
Gerald Brei spricht von «angeblicher Pandemie»
Diese Geschichten klingen nicht neu. Neu war an diesem Morgen in Lausanne nur, dass nun das Bundesgericht nach einer mündlichen Verhandlung über die Rechtmässigkeit der gesetzlichen Grundlagen der Massnahmen während der Pandemie entschieden hat. Es solle in den Plädoyers vornehmlich um diese Frage gehen, mahnte die Bundesrichterin Aubry Girardin zu Beginn.
Der Anwalt der Klägergemeinschaft war der Österreicher Gerald Brei. Mehrmals sprach er von einer «angeblichen Pandemie». Verletzt habe der Bundesrat unter anderem die Menschenwürde, die Wirtschafts- sowie die Versammlungsfreiheit.
Brei schloss sein Plädoyer mit einer Anklage: Die «angebliche Pandemie» habe zur Machtakkumulation des Bundesrates geführt. Wenn das Gericht den Bundesrat nicht zur Rechenschaft ziehe, würde sich die Schweiz «faktisch in eine Diktatur» und einen Polizeistaat verwandeln. «Sie als Bundesrichter müssen sich entscheiden, ob sie das Recht oder den Bundesrat schützen wollen», sagte Brei.
Die Antwort des Staatsanwalts fiel um einiges kürzer aus. Die Klage stütze sich auf viele Falschaussagen und Behauptungen, sagte er. Zudem habe der Bundesrat nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Die Gefahr, die vom Virus ausging, sei wissenschaftlich erwiesen.
Bundesgericht weist Klage ab
Dieser Auffassung waren auch die Richterinnen und Richter. Sie wiesen die Klage ab. Die dem Bundesrat vorgeworfene Missachtung der Bundesverfassung sei nicht erfüllt. Die Gerichtskosten von 10’000 Franken muss der Verein hinter der Klage bezahlen.
Nach Ende der Verhandlung lief eine Zuhörerin vom Verein «Wir Menschen» in den bereits fast leeren Gerichtssaal zurück und rief: «Ich bin enttäuscht von Ihnen!» Sie wurde vom Sicherheitspersonal gebeten, den Saal zu verlassen.
Verein hat mit «negativem Urteil» gerechnet
Enttäuscht dürften viele der anwesenden Gäste gewesen sein, doch überrascht war wohl niemand. «Wir haben damit gerechnet, dass der Entscheid negativ für uns werden wird und der Verein die Kosten tragen muss», sagte Richard Menzer, der sich bei «Wir Menschen» um die Unterschriftensammlung kümmerte. Doch jetzt sei es amtlich, dass die Schweiz eine Diktatur sei, sagte er. Der Aufwand habe sich nicht zuletzt deshalb gelohnt, weil «diese Tatsache» jetzt amtlich sei.
Auf seiner Webseite gibt sich der Verein kämpferisch: Der Aufwand habe sich auch deshalb gelohnt, weil man mit dem Prozess Leute aufklären könne. Je mehr Nein sagten zu «globaler Kontrolle und Herrschaft, desto schneller verlieren diese totalitären Globalisten an Kraft». Der Anwalt des Vereins wollte nach dem Prozess gegenüber dieser Zeitung keine Auskunft geben.
Weiterzug nach Strassburg?
Bedeutet der negative Entscheid der obersten Schweizer Instanz nun das Ende des Vereins oder gar der ganzen Bewegung, die während der Pandemie zu Tausenden auf die Strasse ging? Ein Blick in die noch immer sehr aktiven Telegram-Gruppen legt einen anderen Schluss nahe. «Die Bewegung ist mittlerweile sehr klein, aber ein harter Kern ist noch sehr aktiv», sagt ein Teilnehmer nach dem Prozess im Gespräch. Der Verein «Wir Menschen» prüft gemäss Menzer, die Klage an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterzuziehen.
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