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Emanzipierte Brüste
Alle zeigen Busen, und keiner schaut mehr hin

FWXXWE Venus Medici, Florence, Italy
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Über Sydney Sweeneys grossen Busen wird im Jahr 2024 bisweilen mehr geredet als über ihr schauspielerisches Können. Ein Foto der spanischen Sängerin Rosalía ging viral, weil sie auf dem Weg zu einem Abendessen in Los Angeles ein transparentes weisses Hemd ohne etwas drunter getragen hatte. Nachdem vergangenen Sommer die Ausstellung «Boobs in the Arts» in Berlin Aufsehen erregt hatte, startete am Donnerstag die ähnlich schnörkellos betitelte Ausstellung «Breasts» bei der Biennale in Venedig. Eine gross angelegte Schau, um «die Ikonografie und Symbolik» von Brüsten zu feiern.

Kein Körperteil hat über die Jahrhunderte so viel Aufmerksamkeit, Diskussionen und Missverständnisse ausgelöst. Am Busen wird immer noch kontinuierlich abgearbeitet, sei es in Kunst, Mode oder Politik (oben ohne im Schwimmbad – Ja? Nein? Vielleicht?). Einerseits ist Nacktheit omnipräsent, andererseits wird sie in den sozialen Medien zensiert. Warum bloss sind alle so auf Brüste fixiert?

Die Kunsthistorikerin Anja Zimmermann hat mit «Brust – Geschichte eines politischen Körperteils» ein ziemlich umfassendes Buch dazu vorgelegt, das sich auch eingehend mit der Dichotomie zwischen Sichtbarkeit und Verhüllung beschäftigt. Sie führt die Venus an, die seit der Antike in der Kunstgeschichte präsent sei und noch immer als Referenz für Schönheitsideale gelte. Wer Botticellis «Geburt der Venus» nicht gleich vor Augen hat: Die römische Göttin bedeckt hier sowohl ihre Vulva wie auch ihren Busen schamhaft mit den Händen.

ITALY - CIRCA 2002:  Florence, Galleria Degli Uffizi (Uffizi Gallery) The Birth of Venus, 1484, by Sandro Botticelli (1445-1510), tempera on canvas, 172.5x278.5 cm. (Photo by DeAgostini/Getty Images)

Frauen wurde also früh von männlichen Künstlern eingehämmert, wie sie ihre Körper zu zeigen hatten. Manets «Olympia» von 1863, die ihren Busen offen zeigt, wurde demnach gleich als Prostituierte abgestempelt. Präsentierte man ihn im Korsett «wie eine Fleischbank», so der empörte Arzt Christian Tobias Ephraim Reinhard in einem Text von 1757, galt man ebenfalls schnell als Hure. Dem zur Schau gestellten Busen haftete etwas Sündhaftes an – die, die ihn daraufhin begehrten, waren freilich vollkommen unschuldig.

Mal angenommen, Frauen hätten von Anfang an die Deutungshoheit über ihren eigenen Körper gehabt und dieses ja unbestritten schöne und obendrein ziemlich wichtige Wunderwerk in seiner unterschiedlichen Pracht selbst darstellen können. So wie es Künstlerinnen heute tun, die den Busen keineswegs nur in seiner idealtypischen Halber-Apfel- oder Halbe-Melonen-Form, sondern in allen Grössen und Neigungswinkeln zeigen.

NEW YORK, NY - JUNE 02: (EDITORS NOTE: Image contains partial nudity.)  Rihanna attends the CFDA Awards at Alice Tully Hall, Lincoln Center on June 2, 2014 in New York City.  (Photo by Rabbani and Solimene Photography/WireImage)

Womöglich wäre die nackte Brust dann im positiven Sinne schamlos, eben ganz so wie die männliche. Die Frage, wer oben ohne ins Schwimmbad gehen darf, stellte sich nicht. Weibliche Brustwarzen unter durchsichtigen Saint-Laurent-Blusen wären genauso irritierend oder eben nicht irritierend wie bis zum Bauchnabel aufgeknöpfte Versace-Hemden.

Schon evolutionstheoretisch ist in der Busengeschichte einiges schief, bisweilen sogar surreal gelaufen. Der britische Verhaltensforscher Desmond Morris argumentierte in seinem Bestseller «Der nackte Affe» noch in den 1960er-Jahren, Frauen wäre nur deshalb ein Busen gewachsen, um für Männer attraktiv zu sein und ihnen sexuelle Signale zur ersehnten Fortpflanzung senden zu können.

Jüngere Studien von Evolutionsforscherinnen hingegen legen nahe, dass sich das Fettgewebe entwickelt haben könnte, um Babys besser stillen zu können, oder dass es schlicht ein Beiprodukt sei, um dort mehr Fett einzulagern und das Überleben der Mutter wie des Nachwuchses zu sichern. Belegen lässt sich leider nichts davon, weil Brüste keine fossilen Rückstände hinterlassen.

Warum auch immer Frauen diese Auswüchse haben, sie kamen ihnen in der Emanzipation immer mal wieder in die Quere. Im Podcast «Breasts Unbound» stellt die amerikanische Medienwissenschaftlerin Andrea Press die These auf, dass Jane Russell mit dem Film «Geächtet» von 1947 und später Marilyn Monroe mit ihren «Atombusen» vor allem deshalb massiv zu Sexsymbolen stilisiert wurden, weil die amerikanische Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg das Schlimmste befürchtete: Die selbstbewussten Fabrikarbeiterinnen könnten den heimkehrenden Männern die Jobs wegnehmen und nicht mehr an den Herd zurückkehren. Frauen sollten über den Fixpunkt Busen wieder mehr objektiviert und infantilisiert werden.

Nehmen Frauen die Sache selbst in die Hand?

Wenn Mode, Kunst und Popkultur nun wieder ganz versessen auf nackte Brüste sind – welches hoffentlich neue Kapitel wollen sie damit erzählen? Vielleicht ist es so, dass Frauen die Sache endlich selbst in die Hand nehmen. Zumindest sind es immer mehr Künstlerinnen, die Brüste jenseits vom rein erotischen Kontext auf lustige, böse oder sehr intime Art abbilden.

Gerade Designerinnen wie Chemena Kamali bei Chloé, Stella McCartney oder Simone Rocha scheinen zu glauben, dass (junge) Frauen kein Problem mit sichtbaren Brustwarzen haben. Angeblich hat ja sowieso niemand mehr Lust auf BHs, Unterhemdchen versauen verlässlich jeden Look, und je offensiver man etwas herzeigt, desto angeblich langweiliger wird es mit der Zeit. Alle ziehen blank, und keiner schaut mehr hin.

Als Gesellschaft sind wir sicher sensibilisierter geworden. Das Wort «Busenwunder» hat man schon länger nicht mehr gehört, halbpornografische Fotos wie in der Zeitschrift «Max» oder H&M-Werbung mit Anna Nicole Smith wie in den Neunzigern würde es heute sehr wahrscheinlich so nicht mehr geben. Die Lage ist allerdings nicht weniger kompliziert, weil dafür in unserer Statementkultur jedes durchsichtige Kleid, jeder extrakurze Rock als feministische Freigeistigkeit gelesen werden will, wo es oft doch eher um plumpes Aufmerksamkeitsgeheische geht.

Aber vielleicht braucht es genau diesen Aktivismus, um jetzt zu einer neuen Phase der Nacktheit zu kommen: unaufgeregt, selbstbestimmt, ohne Scham. Die französische Philosophin Camille Froidevaux-Metterie befragte 2020 ganz unterschiedliche Frauen zu deren Busen und stellte fest, dass sich gerade die Jüngeren keinem ästhetischen Diktat mehr unterwerfen wollen. Je ausgeglichener das Verhältnis zum eigenen Busen sei, desto eher könne eine Frau «beide Facetten, die mütterliche wie die erotische, leben», sagte sie in einem Interview.

ROME, ITALY - JULY 08: (EDITOR’S NOTE: Image contains nudity.) Florence Pugh attends the Valentino Haute Couture Fall/Winter 22/23 fashion show on July 08, 2022 in Rome, Italy. (Photo by Vittorio Zunino Celotto/Getty Images)

Stars wie Rihanna, Rosalía, Kristen Stewart, Sydney Sweeney oder Florence Pugh zeigen bereits unerhört entspannt ihren Busen. Florence Pugh erntete 2022 einen Shitstorm, nachdem sie ein durchsichtiges pinkfarbenes Valentino-Kleid getragen hatte – nicht weil überhaupt Brüste zu sehen waren, sondern solche. «Ich fühle mich wohl mit meinen kleinen Brüsten, und genau das machte viele Leute offensichtlich rasend», erklärte die Schauspielerin später. Manche Männer schrieben ihr wütend, sie würden sich bei dem Anblick niemals einen runterholen. «Well don’t», antwortete Pugh gleichgültig. Dann gerne nicht.

«Breasts» im ACP Palazzo Franchetti, Venedig, bis 24. November