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Samstagsgespräch über Ungleichheit
«Ist die Ungleichheit sehr gross, bremst sie das Wachstum»

Ass HUMO: Branko Milanovic VIENNA, AUSTRIA - JANUARY 27 : Branko Milanovic, a development and inequality specialist pictured in Vienna - Wenen, Austria, 27/01/17 Vienna Austria PUBLICATIONxNOTxINxFRAxBEL Copyright: xJanxDexMeuleneirx
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Der renommierte amerikanisch-serbische Ökonom Branko Milanović bemängelt, dass auch seine Zunft die Ungleichheit zu lange vernachlässigt habe. Warum hat sie in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen? Und wohin könnte die Entwicklung gehen? In seinem neuen Buch «Visionen der Ungleichheit» sucht er Antworten bei den Klassikern der Wirtschaftstheorie – und erklärt, warum es heute auf eine Gruppe ankommt, die Karl Marx in seinen Schriften nicht bedacht hatte: Menschen, die gleichzeitig Arbeiter und Kapitalisten sind. Milanović arbeitete lange bei der Weltbank, heute ist der 70-Jährige Professor in New York.

Herr Milanović, wie steht es denn nun um die Ungleichheit?

Betrachtet man alle acht Milliarden Einwohnern der Erde, ist die Ungleichheit seit Ende des vergangenen Jahrhunderts gesunken. Das lag vor allem daran, dass viele asiatische Volkswirtschaften und allen voran China stark gewachsen sind und damit die unzähligen ehemals armen Menschen zu Wohlstand gekommen sind. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist global gesehen dadurch kleiner geworden.

Und bei uns in den Industriestaaten?

In den vergangenen 30 Jahren gab es für die meisten Industrieländer nur eine Richtung: Die Einkommensungleichheit ist gestiegen. Weltweit mag der Gegensatz zwischen Arm und Reich kleiner geworden sein, innerhalb der Industrieländer hat er sich vergrössert. Wir sind allerdings an einem kritischen Punkt: Wie es jetzt weitergeht, ist nicht ganz klar. Innerhalb der Länder war die Entwicklung zuletzt ausgesprochen verschieden. In den USA ist die Ungleichheit heute etwa so gross wie vor zehn Jahren, sie verharrt also auf hohem Niveau. In Grossbritannien ist sie sogar wieder gefallen, in Dänemark dagegen weiter gestiegen. Der Trend ist nicht mehr eindeutig.

Woran liegt das?

Da müsste man bei den jeweiligen Staaten sehr ins Detail gehen. Ein wichtiger Scheidepunkt war aber die Corona-Krise. Die Länder haben mit sehr unterschiedlichen Massnahmen auf die Pandemie reagiert, die USA zum Beispiel haben einen enormen Teil ihres Bruttoinlandsprodukts umverteilt, um die Folgen der Krise abzufedern. Womöglich hat das einen weiteren Anstieg der Ungleichheit abgebremst. Aber auch wenn die weitere Entwicklung generell nicht mehr so klar erscheint, können wir festhalten: Die meisten westlichen Länder sind heute deutlich ungleicher als vor 30 Jahren.

Der damalige amerikanische Präsidentenberater Arthur F. Burns war in den Fünfzigern noch erstaunlich optimistisch: Wenn es so weitergehe, schrieb er, würden die USA in zwei Jahrzehnten völlige Gleichheit erreichen. Es kam anders.

Er war nicht der Einzige, der sehr zuversichtlich war. Die USA hatten damals den Höhepunkt ihrer politischen und wirtschaftlichen Macht erreicht, gleichzeitig war die Einkommensungleichheit gesunken und die intergenerationale Mobilität gestiegen. Man glaubte, alle Industriegesellschaften würden diesem Entwicklungspfad hin zu mehr Gleichheit folgen. Der Ökonom Simon Kuznets entwickelte daraus eine sehr einflussreiche Theorie: Zu Beginn der Industrialisierung ziehen Menschen in die Städte, um dort Arbeit in den Fabriken zu finden, der Gegensatz von Stadt und Land wird grösser, die Löhne bleiben niedrig, die Fabrikbesitzer können ohne zu viel Konkurrenz gute Gewinne machen.

Was bedeutet, dass die Ungleichheit steigt.

Erst einmal. Aber dann erreicht sie einen Gipfelpunkt, und es setzen Kräfte ein, die dagegenwirken: Die Jobs werden anspruchsvoller und besser bezahlt, und die zunehmende Konkurrenz der Kapitalisten sorgt dafür, dass sie immer kleinere Teile der Wertschöpfung für sich beanspruchen können. Der Reichtum verteilt sich breiter, die Ungleichheit sinkt wieder.

Der Kapitalismus macht uns also in Wahrheit am Ende gleicher?

Ja, nachdem er uns zunächst ungleicher gemacht hat. Das war zumindest Kuznets’ Theorie.

Ass HUMO: Branko Milanovic VIENNA, AUSTRIA - JANUARY 27 : Branko Milanovic, a development and inequality specialist pictured in Vienna - Wenen, Austria, 27/01/17 Vienna Austria PUBLICATIONxNOTxINxFRAxBEL Copyright: xJanxDexMeuleneirx

Sie beklagen in Ihrem Buch ein lang anhaltendes Desinteresse an der sozialen Ungleichheit. Wir hätten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg immer weniger über die Kluft zwischen Reich und Arm gesprochen. Wie kam es dazu?

Es gab in den Fünfzigerjahren zum einen diesen sehr optimistischen Blick, dass sich das Problem erledigt hätte, aber dazu kam noch etwas: Es gab mit der Sowjetunion einen Systemkonkurrenten, der behauptete, die klassenlose Gesellschaft erreicht zu haben. Interessanterweise reagierte man im Westen darauf mit der Idee, ebenfalls in einer Art klassenlosen Gesellschaft zu leben – klassenlos in dem Sinne, dass jedem der soziale Aufstieg gelingen könne. Auch Ökonomen interessierten sich kaum für Ungleichheit.

Sie zitieren den Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Lucas, der sagte, der Blick auf Verteilungsfragen sei sogar schädlich für einen seriösen Ökonomen.

Verrückt, oder? Viele Wirtschaftswissenschafter hielten Ungleichheit für ein softes Thema, etwas, das nicht mehr wirklich Ökonomie ist, sondern schon fast Soziologie. Als Nachwuchsforscher konnte man damit im akademischen Betrieb kaum etwas gewinnen. Lange lautet für den Grossteil der Ökonomen die einzige Frage, die wirklich zählt: Wie können wir dafür sorgen, dass die Wirtschaft wächst? Der zusätzliche Wohlstand würde sich dann schon irgendwie von selbst sinnvoll in der Gesellschaft verteilen. Wenn man ins Geschehen eingreife und Einkommen umverteile, riskiere man im Zweifel nur weiteres Wachstum.

War diese Annahme denn so verkehrt? Liberale Ökonomen argumentieren schliesslich immer mit der Idee, dass Ungleichheit auch die Anreize schafft, die Menschen zu Höchstleistungen motiviert und ein Land reicher macht.

Das stimmt, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn die Ungleichheit sehr gross ist, bremst sie das Wachstum sogar eher. Ungleichheit kann also auch verhindern, dass der Wohlstand grösser wird. Das zeigen uns inzwischen auch empirische Studien. Extreme Ungleichheit kann nämlich zum Beispiel bedeuten: Sehr viele Menschen können sich keine langen Ausbildungen leisten oder sie gehen gar nicht zur Schule, und deswegen fehlen gut qualifizierte Fachkräfte, die zum Wachstum beitragen.

Die Gesellschaft und die Wirtschaftswissenschaften verloren die Ungleichheit aus dem Blick – und bemerkten so gar nicht, wie sie irgendwann wieder stieg. Lag Simon Kuznets also mit seiner optimistischen These falsch, dass die Ungleichheit im Kapitalismus sinkt und das Problem sich von selbst erledigt?

Seine Theorie ist nicht falsch. Aber man muss vielleicht eher von einer Wellenbewegung ausgehen. Die Ungleichheit steigt zunächst, fällt schliesslich, dann steigt sie wieder, und zwar immer bei tiefgreifenden technologischen Umbrüchen. Man kann also argumentieren, dass wir seit den Neunzigern den Anstieg einer zweiten Kuznets-Welle erleben. Mit dem Aufkommen der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologie sind einige wenige Unternehmer sehr reich geworden und haben versucht, Monopolpositionen auf dem Markt einzunehmen. Das treibt die Ungleichheit in die Höhe. Aber dann mit der Zeit drängen Wettbewerber in den Markt, die Innovationen werden von anderen Anbietern imitiert, und Behörden beginnen, die Macht einzelner sehr grosser Unternehmen zu begrenzen, so wie die USA und Europa es derzeit bei Google probieren. Das alles könnte der Beginn einer Entwicklung sein, die die Ungleichheit eindämmt. Aber wie gesagt: Im Moment ist schwer zu bestimmen, ob das Pendel wirklich schon wieder umschwingt hin zu mehr Gleichheit.

Von der Dampfmaschine bis zum Computer und zu KI: Jede technische Innovation lässt die Einkommen auseinandergehen?

Im Prinzip würde ich davon ausgehen, ja. Eine neue Technologie ermöglicht mehr Wertschöpfung, von der zunächst vor allem die Pioniere profitieren, die über diese Technologie bestimmen und ihren Angestellten hohe Löhne zahlen können. Ein Punkt ist dabei allerdings zu bedenken.

Und zwar?

Was passiert, wenn wir fortwährend technische Revolutionen erleben? Wenn sich die Innovationen also stark beschleunigen? Dann könnte die Ungleichheit auf einem hohen Niveau bleiben und ständig neu angefacht werden. Es bleibt dann zwischen den ständigen technischen Neuerungen nicht genug Zeit, Monopolmacht zu begrenzen, Regulierungen zu entwickeln oder Einkommen umzuverteilen und die Ungleichheit wieder zu verkleinern.

Ihr Buch ist auch ein Plädoyer, wieder mehr über Klasse nachzudenken. Wenn wir die Klassenfrage ausblenden, schreiben Sie, bekommen wir die Ungleichheit nicht richtig zu fassen.

Wir sollten uns von der Illusion der Klassenlosigkeit verabschieden. Die Klassenzugehörigkeit ist weiter wichtig. Sie spielt auch heute noch eine fundamentale Rolle. Wir können Ungleichheit nicht einfach auf die Frage reduzieren, wie Einkommen verteilt ist. Entscheidend ist auch, was für eine Art Einkommen es ist.

Das heisst?

Ganz simpel: Für Kapitaleinkommen muss man nicht arbeiten, für Lohn schon. Kapitaleinkommen geht mit keinerlei Unannehmlichkeit einher, Lohneinkommen schon. 100 Franken Kapitaleinkommen haben insofern einen anderen Wert als 100 Franken Arbeitseinkommen. Unter den Topverdienern gibt es allerdings zunehmend ein Phänomen, das ich Homoplutie genannt habe: Das reichste Zehntel beziehen sehr hohe Arbeitseinkommen. Es hat aber gleichzeitig auch hohe Kapitaleinkünfte.

Dass Personen gleichzeitig Arbeiter und Kapitalisten sind, hatte Marx nicht vorgesehen.

Genau, auch das trägt zur Illusion bei, es gebe heute keine Klassen mehr. Da macht also ein Vorstandschef im Laufe seiner Karriere viel Geld und erwirbt über die Jahre auch Anteile am Unternehmen. Er erscheint jeden Tag im Büro wie Sie und ich, sieht also wie ein Arbeiter aus, aber mit 40 oder 50 ist er gleichzeitig ein grosser Kapitalist geworden. Im Jahr 1950 gehörten 10 Prozent derjenigen mit den höchsten Kapitaleinkommen in den USA auch zu dem Zehntel mit dem höchsten Arbeitseinkommen. Inzwischen sind es 30 Prozent. Die Überlappung hat zugenommen.