Dämonen eines VeloheldenSir Bradley Wiggins entgleitet das Leben – er soll gar obdachlos sein
Als unkonventioneller Radprofi begeisterte der Brite seine Fans. Doch nach seinem Rücktritt bricht beim 44-Jährigen die belastende Vergangenheit hervor.
Für diesen Text kehren wir kurz in den Sommer 2012 zurück. Ein 32-jähriger Schlaks entzückt an den Spielen von London Millionen von Briten: Gerade hat er als Erster seines Landes die Tour de France gewonnen. Dann siegt er auch bei Olympia im Zeitfahren. Fünfmal triumphiert er an Olympischen Spielen, wird zum Sir geadelt.
Überlebensgross aber machen diesen Bradley Wiggins nicht seine historischen Siege, sondern seine Auftritte: Backenbart, freche Sprüche, überhaupt eine Rock-’n’-Roll-Attitüde, wie sie in der konformistischen Welt des Spitzensports kaum je zu erleben ist. Wiggins ist ein Charakter – mit Dämonen aus seiner Vergangenheit, die er in seiner goldenen Phase aber einzudämmen vermag.
Nach seinem Rücktritt 2016 aber implodiert das kontrollierte Leben des Sporthelden – und kulminiert auch in Schlagzeilen, die sich um seine Schulden drehen. Rund eine Million Pfund kann seine Firma nicht zahlen. Seine beiden Häuser sind verpfändet bzw. verkauft.
Sein Agent sagte zuletzt, er wisse nicht, wo Wiggins übernachte. Er werde wohl bei der Familie und Bekannten «couchsurfen». Wobei sich Wiggins von seiner langjährigen Frau, mit der er zwei fast erwachsene Kinder hat, vor vier Jahren getrennt hat. Aus einer zweiten aufgelösten Beziehung kommt eine junge Tochter hinzu.
Zu den jüngsten Schlagzeilen schweigt Wiggins. Und doch weiss man ganz viel zu und von ihm, weil er in den letzten Jahren mit einer fast schon schmerzhaften Ehrlichkeit über sich und seine persönlichen Brüche redete, kaum je aber über die Dopinganschuldigungen rund um seine Topjahre.
Der achtfache Olympiamedaillen-Gewinner hat seinen Erfolg auf eine einfache Formel gebracht: «Grösse gründet im Widerstand.» Das hört sich wie ein Kalenderspruch an. In seinem Fall aber ist da viel Tragik drin. Wiggins wuchs in einer Sozialüberbauung mit seiner alleinerziehenden Mutter auf. Der Vater, ein australischer Radprofi, hatte die Familie verlassen, als Bradley zweijährig war – und starb mit 55 wohl nach einem Streit gewaltsam.
Der Missbrauch des Coaches
Die Abwesenheit des Vaters und das Leben in Gewalt und Armut hätten ihn angetrieben, aus seiner Welt auszubrechen, hat Wiggins erklärt. Das Mittel des sportlich talentierten Buben: das Rennvelo. So konnte er sich auch gleich dem Stiefvater entziehen, der ihn nach Wiggins’ eigener Aussage schwer mobbte. Der Stiefvater widerspricht dieser Darstellung.
Was aber passierte mit dem aufstrebenden Youngster? Er wurde von seinem Trainer sexuell missbraucht. Vor zwei Jahren redete Wiggins erstmals darüber. Und doch sagt er über ebendiesen – längst verstorbenen – Coach, er sei der Erste gewesen, der an ihn als Athleten geglaubt und sein Selbstvertrauen in seine sportlichen Fähigkeiten gestärkt habe.
Ihn wie seinen abwesenden Vater nennt er noch heute seine «männlichen Vorbilder». Obschon der Vater, als sich Wiggins’ Durchbruch abzeichnete, plötzlich wieder auftauchte und sein Leben mitprägen wollte – auch auf eine Art, die Wiggins nie vergessen wird: «Du wirst nie so gut wie ich werden», soll er ihm zugeflüstert haben. Es war nicht motivierend gemeint.
Fast 30 kg schwerer
All diese Narben konnte der Athlet Wiggins dank Training ausblenden. Nach dem Rücktritt aber fehlten ihm die Mechanismen dafür. Seither kann er nicht anders, als die Vergangenheit zuzulassen und über sie zu sprechen.
Offensichtlich ist jedoch: Ihm fehlen Halt und Struktur. Arzt wollte er nach dem Rücktritt werden, wovon er schnell absah. Sozialarbeiter sollte es dann sein, was er auch liess. Dafür nahm er, beim Tour-de-France-Sieg auf 70 kg runtergehungert bei 1,92 m, fast 30 kg zu. Er versuchte sich als Ruderer, nennt Boxen nun seine grosse sportliche Leidenschaft.
Vor zwei Jahren sagte er, er habe nach seinem Rücktritt fünf Jahre nicht mehr auf einem Rad gesessen. Auch weil er die Person nicht gemocht habe, die der Radsport aus ihm gemacht habe: ein «egoistisches A…». Und doch versuchte er sich als erfolgloser Unternehmer im Rad-Business, auch mit eigenem Team.
Nun soll sein geschätztes Vermögen von 13 Millionen Pfund aufgebraucht sein, die Zukunft nebulös. Die «Times» fragte ihn im letzten Jahr, ob er sein turbulentes Leben gegen ein einfacheres getauscht hätte. Er replizierte in seiner typischen Art: «Ja. Aber es hat mich dafür zu einer besseren Person gemacht.»
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