Krise in der britischen RegierungBoris Johnson verliert einen wichtigen Vertrauten
Der Abgang des Hardliners Lee Cain schwächt das kompromisslose Brexit-Lager in der britischen Regierung.
Heftige Turbulenzen in der britischen Regierungszentrale und wachsende Unruhe im Lager der Tory-Abgeordneten kennzeichnen die aktuelle Lage in London – ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da die Zahl der Corona-Toten im Lande eine deprimierende neue Rekordmarke überschritten hat. Regierungsangaben zufolge sind seit Beginn der Pandemie im Vereinigten Königreich nun mehr als 50’000 Menschen nachweislich an der Viruserkrankung gestorben. Nach Berechnungen des Statistischen Amtes in London dürfte die Zahl sogar weit höher, nämlich bei annähernd 70’000 Corona-Opfern, liegen.
Diese Woche hatte die Zahl der täglichen Toten bereits wieder die Marke 600, die höchste seit Mai, erreicht. Inmitten dieser anhaltenden schweren Krise und des gegenwärtigen zweiten Lockdown auf der Insel sind Premierminister Boris Johnson und seine Amtsführung erneut scharf kritisiert worden. Sir Keir Starmer, der britische Oppositionsführer, fragte am Donnerstag, «warum um Himmels willen» Johnsons engste Berater in Downing Street miteinander Krieg führten, statt endlich eine klare Strategie gegen die Pandemie zu entwickeln: «Wir alle machen uns Sorgen um unsere Gesundheit und um unsere Familien, wir alle haben Angst um unsere Jobs – und die liegen sich in den Haaren hinter der Tür von No. 10.»
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Anlass zu dieser Kritik gab das an die Öffentlichkeit gelangte bittere Ringen um Einfluss in der Regierungszentrale. Johnsons Kommunikationsdirektor Lee Cain, der geglaubt hatte, dass der Premier ihn zu seinem Stabschef machen würde, fand sich bei seinem Sprung an die Spitze der Downing-Street-Operationen von Ministern und wichtigen Tory-Parlamentariern blockiert. Unter anderem half offenbar auch Johnsons Verlobte Carrie Symonds, eine frühere Kommunikationsexpertin der Tories, die Ernennung Cains zu verhindern. Cain kündigte daraufhin seinen Abgang an.
Was passiert mit dem Chefberater?
Das führte zu unmittelbaren Spekulationen, dass auch Johnsons Chefberater Dominic Cummings, der bisher wichtigste Kopf in der Zentrale, sein Amt niederlegen würde. Denn Cain hatte Cummings seinerzeit den Weg nach No. 10 geebnet. Er gehörte wie Cummings der «Vote Leave»-Kampagne an. Diese führte 2016 den erfolgreichen Feldzug für den Brexit, dessen Galionsfigur Boris Johnson wurde.
Cain galt immer als enger Alliierter von Cummings. Er stand aber auch Johnson nah und beriet diesen schon, als er noch Aussenminister war. Cains und Cummings’ eigenwillige Aktionen und radikale Ideen zur Umgestaltung der britischen Gesellschaft, ebenso wie ihre betonte Geringschätzung gewählter Volksvertreter, trugen ihnen zunehmend Unmut im Regierungslager ein.
Johnsons wirrer Kurs
Mit seinem Stabschefs-Angebot an Cain, das er letztlich wieder zurückzog, verstärkte Premier Johnson den Eindruck eines wirren Kurses, wie ihn seine Kritiker schon seit Beginn der Pandemie beklagen. Insider berichten von unklaren politischen Vorgaben und von anhaltenden Richtungskämpfen in Downing Street No. 10. Londons «Financial Times» zitierte gestern einen hohen Staatsbeamten mit den Worten: «Da drinnen fällt alles auseinander. Es ist noch viel schlimmer, als die Aussenwelt annimmt. Und das mitten in einer Pandemie. Eine Schande ist das.» Der Tory-Abgeordnete Sir Charles Walker räumte ein, dass viele seiner Kollegen «seit längerem schon mit der Arbeitsweise von No. 10 unglücklich waren».
Um den eigenen Einfluss auf Boris Johnson zu stärken, haben Dutzende konservative Abgeordnete sich in jüngster Zeit zu neuen Aktionsgruppen zusammengeschlossen. Diese treten teils gegen «linken ideologischen Unfug», teils speziell gegen den Lockdown, teils aber auch für mehr Unterstützung Nordenglands ein. Grund für diese Entwicklung, erklärte ein Tory-Abgeordneter dem «Guardian» gestern, sei die Tatsache, dass der Zugang zur Regierungszentrale so beschränkt sei, dass man sich Gehör verschaffen müsse. Ausserdem fehle es an Zukunftsvisionen: «Johnson schaut über den Brexit schlicht nicht hinaus.»
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