Streit um Brexit-Vertrag mit der EUWeiss Boris Johnson eigentlich, was er da tut?
Seine Kritiker vergleichen den britischen Premier mit Donald Trump. Boris Johnson kümmert das nicht: Er wähnt sich über dem Gesetz und will unangefochten regieren.
Das Abkommen mit der EU, das er vorigen Oktober schloss, soll nun auf einmal nicht mehr gelten. Boris Johnson hat es sich anders überlegt. Kein Jahr ist es her, dass der britische Premier sich daheim feiern liess für einen Vertragsschluss, der den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union besiegelte und seinem Land neue nationale Souveränität sichern sollte.
Nun hat Johnson entdeckt, dass er um dieser Souveränität willen Kernpunkte «seines» Vertrags mit der EU besser ignoriert. So ganz ernst sei es der britischen Seite mit dem Vertragsschluss ja nie gewesen, erklärt London. Das Abkommen sei schliesslich «in grosser Eile verfasst worden». Es «sollte nie der endgültig vereinbarte Text sein». Da die EU den Vertrag womöglich «extrem oder irrational» interpretieren könne, müsse man sich das Recht herausnehmen, gewisse Bestimmungen nachträglich für ungültig zu erklären.
Diese Theorie versuchte der für den Brexit zuständige Minister Michael Gove am Donnerstag dem eilends nach London gereisten EU-Abgesandten Maros Sefcovic zu vermitteln. Ohne Erfolg: Sefcovic stellte der britischen Regierung ein Ultimatum und verlangte, dass der Gesetzentwurf, mit dem Johnson die Irland-Vereinbarungen aushebeln will, bis Ende Monat vom Tisch ist.
Ein dreister Vertragsbruch der Regierung
Selbst nüchterne britische Juristen haben sich entsetzt gezeigt über den «dreisten Vertragsbruch» durch ihre Regierung. Immerhin wurde der Austrittsvertrag vom britischen Parlament ratifiziert und als internationale Vereinbarung bei den Vereinten Nationen hinterlegt. Auch prominente konservative Politiker sind schockiert. Der frühere Tory-Premier Sir John Major warnte: «Wenn wir erst mal den Ruf einbüssen, eingegangene Versprechen auch zu halten, werden wir etwas von unschätzbarem Wert verloren haben, das sich vielleicht nie wieder zurückgewinnen lässt.» In der Tat hätte nicht mal Majors Vorgängerin, die rechtslastige eiserne Lady Margaret Thatcher, am Prinzip von Law and Order je gerührt.
Schon dass Boris Johnson geradewegs auf den härtesten Brexit zusteuert, wird von vielen traditionellen Anhängern der Regierungspartei – und auch von manchen Brexit-Befürwortern – als zu riskant empfunden. Dass er Rechtsbruch offiziell zur Regierungspolitik machen würde, hätte sich kaum jemand träumen lassen.
Dabei hat es durchaus Anzeichen für eine solche Entwicklung gegeben. Das offenkundigste war die Zwangsbeurlaubung des Parlaments durch Johnson im vorigen Jahr – aus politischen Gründen. Gegen diese willkürliche Massnahme musste damals der Oberste Gerichtshof einschreiten. Inzwischen hat die Regierung der Justiz, den Staatsbeamten und unbotmässigen Medien wie der BBC den Kampf angesagt und einschneidende «Reformen» angeordnet, um ihre Kritiker an die Kandare zu legen. Nach dem Willen des Johnson-Chefberaters Dominic Cummings, der sich selbst über dem Gesetz sieht, soll die Regierung unangefochten regieren können – in der Innen- wie der Aussenpolitik.
Inzwischen sei «mehr als ein Anflug von Trump» und dessen «verfassungsrechtlichen Exzessen» in der britischen Politik zu spüren, klagte am Donnerstag Londons «Financial Times». Ratlos fragen sich auch konservative Parteigänger, ob Johnson letztlich darauf aus sei, mit seiner Konfrontationsstrategie die EU zum Abbruch der Verhandlungen über eine neue Handelsvereinbarung zu provozieren, um den Europäern die Schuld an einem No-Deal zuschieben zu können.
Oder ob der Premier nur «bluffe», um in den Scharmützeln heroischen Widerstands gegen die EU in letzter Minute noch eine der EU «abgetrotzte» neue Vereinbarung, einen Freihandelsvertrag, aus der Tasche zu ziehen.
Skeptiker befürchten, dass er sich wieder von den Hardlinern hat mitziehen lassen.
Freilich gibt es noch eine dritte Möglichkeit – nämlich dass Boris Johnson selbst nicht weiss, was er will, was für ihn am besten wäre. Als er 2016 die folgenschwere Entscheidung traf, sich an die Spitze der Brexit-Bewegung zu setzen, hatte er ja auch wenige Tage zuvor noch mit dem Gedanken gespielt, an der Seite David Camerons gegen den Brexit zu Felde zu ziehen.
Taktische Spielchen waren Johnson nie fremd. Auch wenn er immer Gefahr lief, die Kontrolle über die Ereignisse zu verlieren. Skeptiker befürchten, dass er sich nun wieder von den Hardlinern hat mitziehen lassen. Diesmal ist der Einsatz allerdings erschreckend hoch.
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