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Interview zur WM in Lenzerheide
Was macht die Faszination Biathlon aus? «Dieser Sport ist Millimeterarbeit im Ausnahmezustand»

Elisa Gasparin aus der Schweiz beim 7,5 km Sprint der IBU Weltcup Biathlon in Hochfilzen, Österreich. Verschneite Berge im Hintergrund.
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Am Mittwoch geht es in Lenzerheide los, dann schiessen und laufen die besten Biathletinnen und Biathleten um WM-Medaillen. Den Anfang macht die Mixed-Staffel, danach folgen die ersten Einzelrennen. Mittendrin und am Mikrofon wird dann Matthias Simmen sein. Der ehemalige Biathlon-Profi kommentiert wie gewohnt für das Schweizer Fernsehen die Wettkämpfe.

Was macht die Faszination Biathlon aus? Was ist die Schwierigkeit am Schiessstand, wenn der Wind bläst und die Zuschauer rundherum brüllen? Und wie viele Medaillen werden die Schweizer vor Heimpublikum einheimsen?

Matthias Simmen, Biathlon boomt und füllt ganze Stadien, der Profi-Langlaufsport hingegen steht seit Jahren in der Kritik und in der Krise. Warum dieser Unterschied?

Das liegt zum einen wohl am ganz unterschiedlichen Spannungsbogen der beiden Sportarten. In einem Biathlonrennen kann immer alles passieren, der Beste kann scheitern und die Aussenseiterin zur Heldin werden. Gerade heute (das Interview fand Anfang Januar statt; die Red.) wurde die Schwedin Hanna Öberg 63. Sie ist eine der Besten der Welt und war dennoch chancenlos. Doch morgen gehört sie bereits wieder zu den Favoritinnen. Das Gleiche wäre im Langlauf unmöglich. Biathlon kombiniert zudem sportliche Höchstleistung mit einer Eventkultur. Der Langlaufsport hingegen leidet unter einer vergleichsweise konservativen Präsentation.

Warum kommt bei Biathlonrennen diese Partystimmung auf?

Der Slogan der Weltmeisterschaft in Östersund 2019 lautete: «Everyday a new drama». Biathlon verbindet diese Unvorhersehbarkeit des Rennausgangs mit dem puren, simplen Wettkampfformat. Jeder, der bei einem Biathlonrennen einschaltet, versteht sofort, wer dominiert und wer in Schwierigkeiten ist, weil er gerade dreimal danebengeschossen hat. Doch da ist noch ein anderer Punkt, der fasziniert. 

Welcher?

Dass man irgendwann vor vielen, vielen Jahren zwei scheinbar völlig gegensätzliche Sportarten miteinander verschmolzen hat, um etwas Verrücktes zu erschaffen. Da ist die extrem hohe Belastung für das Herz-Kreislauf-System und die Muskulatur beim Langlaufen. Und da ist andererseits die komplette Ruhe und Fokussierung am Schiessstand, wenn man den Lärm um sich herum ausblenden muss. Action und Fokus, Vollgas und Stillstand. Das ist Biathlon.

Matthias Simmen aus der Schweiz während des Biathlon 10 km Sprint-Finals bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Whistler.

Dann tauchen wir doch in ein solch verrücktes Rennen ein: Was ist entscheidender, die läuferische Fähigkeit oder das Schiessen?

Natürlich muss man in beidem Weltklasse sein, will man an einer WM regelmässig um Medaillen kämpfen. Aber es ist schon wahnsinnig, wie sehr sich die Leistungen am Schiessplatz entwickelt haben. Kürzlich brauchte ein Norweger bei einem Weltcuprennen 12,9 Sekunden für fünf Schuss. 12,9 Sekunden! Ich habe recherchiert, an den Olympischen Spielen in Lillehammer 1994 hatten die Besten noch Schiesszeiten von bis zu 50 Sekunden und mehr.

«Du darfst nicht denken, Punkt!»

Was macht das Schiessen so schwierig?

Die meisten Zuschauer meinen ja, es gehe darum, den Puls so weit runter wie möglich zu bekommen, damit man ein ruhiges Händchen hat. Aber das stimmt gar nicht, dafür bleibt gar keine Zeit. Die Kunst ist es vielmehr, die Ruhephase beinahe beim Maximalpuls zu finden. 

Das müssen Sie erklären. 

Wenn ich warte, bis mein Puls im grünen Bereich ist, sind meine Gegner schon lange auf der nächsten Runde. Also muss ich den perfekten Moment bei einem hohen kardiovaskulären Stress finden. Das geht so: Der Athlet zielt und hält den Atem an, es kommt zu einem kurzen Apnoemoment des Sauerstoffmangels, der Brustkorb bleibt still. Dann lässt der Athlet die Luft zu rund zwei Dritteln aus der Lunge entweichen, hält den Atem erneut an. Und dann: Schuss! 

Klingt ziemlich kompliziert. Wie kann ein Athlet da in 12,9 Sekunden fünf Schüsse abfeuern?

Genau das ist die grosse Kunst, die nur wenige beherrschen. Die Allerbesten nutzen diesen Ruhemoment nach dem Ausatmen nämlich nicht für einen einzigen Schuss, sondern für zwei oder sogar drei. Entscheidend dabei ist, dass man genau den einen ruhigen Moment erwischt, wenn der Körper für ein paar Zehntelsekunden entspannt. Nur dann gelingen saubere Schüsse. Verpasst man diesen Moment, dann folgt der pure Stress.

Der französische Biathlet Emilien Jacquelin zielt im Liegendanschlag beim Männer-Staffelrennen des IBU-Weltcups in Hochfilzen, Österreich.

Wie gelingt das, wenn Tausende Zuschauer rundherum brüllen und der Konkurrent nebenan die Scheiben in 13 Sekunden abräumt?

Der grösste Fehler wäre, in einem solchen Moment die Umgebung wahrzunehmen und zu zweifeln. Darum üben die besten Athletinnen und Athleten diese komplexen Abläufe am Schiessstand unendliche Male, damit sie vollkommen bei sich bleiben. Ein Profi feuert in der Saisonvorbereitung ab April bis im Winter 20’000 bis 25’000 Schüsse ab, in der Wettkampfsaison kommen dann nochmals 5000 dazu. Dazu werden die Handgriffe am Gewehr immer wieder geübt, sodass man sie blind beherrscht.

Das klingt alles sehr maschinenmässig. Ist es so einfach?

Natürlich ist es nicht einfach. Auch wenn ein Johannes Thingnes Bö wie ein Roboter Sieg an Sieg reiht, ist er nach wie vor ein Mensch. Gerade in Massenstartrennen, wo man zu Beginn mit dem Feld mitlaufen muss, kann man sich schon mal übernehmen, und dann wird die Schiessprüfung noch heikler. Man gleitet zur Matte, stellt sich auf, das Herz rast, die Oberschenkel zittern, der Wind bläst von allen Seiten – es ist so, als würde man nackt auf der Matte stehen. Und dann wird diese Zielscheibe, die für die Zuschauer am Fernseher gross wie ein Suppenteller aussieht, zu einer kleinen Stecknadel. Es ist brutal.

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Sie selber waren Profi. Was ging damals in Ihrem Kopf jeweils vor?

Du darfst nicht denken, Punkt! Es ist Millimeterarbeit im Ausnahmezustand. Es geht nur darum: Druck auf den Zeigefinger zu geben – oder nicht. Eine falsche Entscheidung in einem Sekundenbruchteil kann über Sieg oder Platz 30 entscheiden. Da kannst du nicht überlegen, du hast keine Zeit dafür. Alles passiert wie in einem Film. Ich habe etwas Ähnliches in meinem Leben bisher nur einmal erlebt, bei einem Lawinenunglück. Ich musste einfach funktionieren: nicht in Panik geraten, Schnee schaufeln und ja nicht nachdenken. 

Welches Erlebnis am Schiessstand ist Ihnen aus Ihrer Profikarriere geblieben?

Das war bei einem Weltcuprennen vor den Olympischen Spielen in Vancouver. Ich musste mich noch qualifizieren und stand enorm unter Druck. Es war ein Sprintrennen, die erste Runde lief gut, das Liegendschiessen auch, fünf Treffer, ich lag auf Zwischenrang 2. Dann kam ich erneut zum Schiessplatz, das abschliessende Stehendschiessen. Ich stand da, der Wind blies wie verrückt. Ich schoss – Fehler. Ich schoss erneut – Fehler. Danach positionierte ich mich neu, es war ja noch nichts verloren. Ich setzte erneut an und traf drei Scheiben nacheinander. Als ich jedoch von der Matte weglief, hatte ich ein mulmiges Gefühl, irgendwas war da faul …

… was?

Als ich auf die Strafrunde einbog und meine zwei Extrarunden drehen wollte, sah ich meinen Trainer am Streckenrand, völlig entgeistert. Er schrie: «Fünf Strafrunden!» Da kapierte ich, dass ich nach der Neupositionierung auf die Scheiben der Nebenbahn geschossen hatte. Es war fürchterlich, ich fiel von Rang 2 weit zurück. Das werde ich nie vergessen. Zum Glück aber schaffte ich die Olympiaqualifikation ein paar Wochen später dennoch. (lacht)

Sie haben viel über die Schwierigkeit des Schiessens erzählt, doch ein Biathlonrennen besteht zu einem grossen Teil auch aus Langlaufen.

Die Entwicklung im Schiessen ist einfach enorm, darum müssen gerade junge Athletinnen und Athleten da viel investieren, wenn sie auf höchster Stufe mithalten wollen. Ich selber war zum Beispiel aber sicher ein besserer Läufer, auch weil ich viel zu spät mit dem Schiessen angefangen habe. Die Leistung im Laufen kann dir Sicherheit geben, du kannst Schiessfehler kompensieren, wenn du einen Gang mehr hast als die Konkurrenten. Und du kannst vor allem auch mehr Risiken eingehen. Das gibt dir gewisse taktische Freiheiten.

Wie hoch ist das Langlaufniveau im Biathlon? Anders gefragt: Könnte ein Johannes Klaebo, der beste Langläufer der Welt, im Biathlon-Weltcup mithalten, wenn er einen Biathlon-Crashkurs machen würde?

Diese Experimente gab es ja schon mehrfach. Doch was passierte, als die Langläufer meinten, sie könnten schnell einen Sportartenwechsel vollziehen? Eine Stina Nilsson oder eine Anamarija Lampic haben den Wechsel gewagt – beide zählten zu den besten Langläuferinnen der Welt. Doch der grosse Durchbruch blieb aus. Nilsson ist mangels Erfolg inzwischen wieder zum Langlauf zurückgekehrt, während Lampic zwar oft mit den schnellsten Laufzeiten glänzt, jedoch im Stehendschiessen mit einer desolaten Trefferquote zu kämpfen hat. Es gab jedoch auch ein paar Ausnahmen.

Johannes Thingnes Bo aus Norwegen während des 10-km-Sprints beim IBU Biathlon-Weltcup in Oberhof am 10. Januar 2025.

Welche?

Umsteigerinnen, die schnell Fortschritte im Schiessen erzielten, wie Denise Herrmann-Wick. Sie gewann 2014 bei den Olympischen Spielen Bronze mit der deutschen Langlaufstaffel und krönte ihre Karriere 2022 als Biathlon-Olympiasiegerin über 15 Kilometer. Erstaunlicherweise kann ich mich aber an keinen erfolgreichen Wechsel im Männerbereich erinnern. Anders herum funktionierte es schon eher. Ein Ole Einar Björndalen konnte auch schon Weltcuprennen bei den Langläufern für sich entscheiden.

Nun kämpfen in den kommenden Tagen die besten Biathletinnen und Biathleten in Lenzerheide um WM-Edelmetall. Wer wird die herausragende Nation sein?

Die Breite bei den norwegischen Männern ist enorm, da ist auch die zweite Garde noch extrem stark. Und an ihrer Spitze steht mit Bö ein absoluter Ausnahmekönner, der in jedem Rennen Gold gewinnen kann. Die Frage ist, wie er mit der Tatsache umgeht, dass per Ende Saison für ihn Schluss ist. Doch aufgepasst auf die Schweden und Franzosen, die zuletzt für Furore gesorgt haben! Auch die Französinnen zeigten sich im Weltcup zuletzt in Topform, daneben sind die deutschen und die schwedischen Frauen wieder stärker.

Wie gut ist die Schweizer Delegation?

Das Schweizer Biathlon-Team zeichnet sich durch zahlreiche Talente aus, die über enormes Potenzial verfügen. Besonders herausragend sind drei Athleten, die an einem guten Tag zur absoluten Weltspitze gehören. Zum einen Lena Häcki-Gross, die bereits zwei Weltcupsiege errungen hat. Zum anderen Niklas Hartweg, der nicht nur läuferisch überzeugt, sondern auch mental stark ist. Nicht zu vergessen ist Amy Baserga, die bei ihrem ersten Podestplatz in Ruhpolding ihr enormes Potenzial unter Beweis gestellt hat. Die dreifache Juniorenweltmeisterin ist aktuell die beste Schützin der Welt.

Biathletin Amy Baserga aus der Schweiz beim Weltcup in Antholz 2025, während des Frauen-Staffelrennens, in sportlicher Aktion.

Zudem darf das Schweizer Team vor Heimpublikum laufen. Wie gross ist da der Vorteil im Biathlon?

Heimvorteil? Heimnachteil? Kommt immer ganz darauf an, was man daraus macht, denn die meisten Schweizer sind noch nie so im Fokus gestanden wie jetzt an der WM. Insgesamt ist der Heimvorteil im Biathlon zwar spürbar, aber er kann nur genutzt werden, wenn das Team gut vorbereitet ist und die Leistungen wie gewohnt abruft.

Wie viele Schweizer Medaillen gibts?

(überlegt lange) Zwei. Eine gibt es in einem der Staffelwettkämpfe und dazu eine Einzelmedaille. Ich traue Häcki-Gross, Baserga oder Hartweg zu, dass sie über sich hinauswachsen können.