Bewegung im EU-DossierGewerkschaften wechseln in den Angriffsmodus
Der Bundesrat stellt demnächst die Weichen für Verhandlungen mit der EU, vielleicht schon am Mittwoch. Nun wird eifrig taktiert – und eskaliert.

Lange war es still um das Europa-Dossier. Alles geschah hinter verschlossenen Türen, alle waren verschwiegen. Das ändert sich nun. Am Montag sind die Gewerkschaften mit einer klaren Botschaft vor die Medien getreten. Sie lautet: So nicht.
Der Auftritt erfolgt kurz vor einem entscheidenden Schritt: Diesen Mittwoch – oder eine Woche später – beugt sich der Bundesrat über die Ergebnisse der Sondierungsgespräche mit der EU, die in einem gemeinsamen Dokument festgehalten sind. Gleichzeitig will er Aussenminister Ignazio Cassis beauftragen, ein Verhandlungsmandat auszuarbeiten.
Danach soll es rasch gehen: Der Zeitplan sieht vor, dass die Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments und die Kantone bereits im Dezember oder Januar zum Verhandlungsmandat konsultiert werden. Im Frühjahr würden die Verhandlungen beginnen – mit dem Ziel, die bilateralen Beziehungen auf eine neue Basis zu stellen. In Brüssel müsste die EU-Kommission allerdings ihre Verhandlungsmandate ebenfalls noch anpassen.
Gewerkschaften in Machtposition
Einigen sich der Bundesrat und die EU-Kommission, wird die Schweizer Stimmbevölkerung entscheiden. Spätestens dann kommt es darauf an, wie sich die Gewerkschaften zum Verhandlungsergebnis stellen. Gibt es nicht nur von rechts, sondern auch von links Widerstand, ist die Annäherung an die EU zum Scheitern verurteilt.
«Wenn sie es ohne uns machen, wird man sehen, wohin das führt», sagte Pierre-Yves Maillard, der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), vor den Medien. Bisher habe das Stimmvolk immer nur dann einer weiteren Öffnung gegenüber der EU zugestimmt, wenn diese mit zusätzlichem Schutz für die Arbeitnehmenden verbunden gewesen sei.
Preis sei «eindeutig zu hoch»
Adrian Wüthrich, der Präsident von Travailsuisse, schlug nicht minder deutliche Töne an. Man befürworte grundsätzlich geregelte Beziehungen mit der EU, sagte er, «aber nicht zu jedem Preis». So wie es jetzt aussehe, sei der Preis «eindeutig zu hoch».
Die Gewerkschaftsbosse machen klar: Es ist als Drohung gemeint. Zwar gab es bei den Sondierungsgesprächen in vielen Streitfragen Fortschritte. So soll etwa die Unionsbürgerrichtlinie für die Schweiz nur beschränkt gelten. Die Befürchtungen, dass es zu einer Einwanderung ins Sozialsystem kommen könnte, scheinen ausgeräumt. Beim Lohnschutz war die EU dagegen nicht zu jenen Zugeständnissen bereit, die aus Sicht der Gewerkschaften nötig wären.
Echte Verhandlungen statt Show
Die Gewerkschaften kritisieren nun, Cassis wolle das so hinnehmen, er betrachte das Ergebnis der Sondierungsgespräche quasi schon als Verhandlungsergebnis. Ihr Ziel: Es soll «echte» Verhandlungen geben statt einer «Show» – und mehr Absicherung beim Lohnschutz, als in den Sondierungsgesprächen vereinbart wurde. Der Bundesrat soll Cassis beauftragen, darüber zu verhandeln – auf politischer Ebene.

In den Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments bestehen ähnliche Zweifel. Die Kommissionen haben ein Mitspracherecht beim Verhandlungsmandat. Sei durch das Ergebnis der Sondierungsgespräche das Mandat praktisch schon festgelegt, sei die Konsultation eine Farce, sagen Mitglieder. Politische Mitbestimmung müsse möglich sein.
Für den Fall, dass in den Verhandlungen mit der EU beim Lohnschutz nichts erreicht wird, verlangen die Gewerkschaften Massnahmen im Inland, um die Verschlechterungen zu kompensieren. Bisher hätten die Arbeitgeber dafür nicht Hand geboten, sagt SGB-Chefökonom Daniel Lampart.
Spesen nach polnischem Recht
Besonders stört die Gewerkschaften die Spesenregelung der EU für entsandte Arbeitnehmende. Sie sieht vor, dass für Arbeitseinsätze in der Schweiz künftig die Gesetze aus den jeweiligen Heimatländern gelten, was Firmen im Ausland einen Wettbewerbsvorteil verschaffen würde.
Zum Beispiel seien die Kosten einer polnischen Firma, so warnen die Gewerkschaften, allein aufgrund der tieferen Spesen oft mehrere Tausend Franken pro Person und Monat tiefer als die der Schweizer Konkurrenz. Der Arbeitgeberverband sieht diesen Punkt ähnlich kritisch wie die Gewerkschaften – seine Mitglieder würden ebenfalls unter einer solchen Regelung leiden.
Die Gewerkschaften halten ausserdem den Wegfall der sogenannten Kautionspflicht für gefährlich: Entsendenden Firmen droht heute bei einem Verstoss gegen Schweizer Regeln, eine zuvor hinterlegte Kaution ganz oder teilweise zu verlieren.

Sollte sich die EU in diesem Punkt durchsetzen, wäre die Erhebung einer Kaution bloss bei Firmen erlaubt, die sich bereits etwas zu Schulden haben kommen lassen. Die Gewerkschaften bezeichnen die Umsetzung einer solchen Regelung aus verschiedenen Gründen jedoch als sehr kompliziert und weitgehend wirkungslos.
Als Kompensationsmassnahme für die wegfallende Kaution könnten sich die Arbeitgeber vorstellen, die Bussen für Verstösse gegen Schweizer Gesetze zu erhöhen. Das würde ebenfalls abschreckend wirken. Die Gewerkschaften sind aber kritisch: Die Umsetzung der Massnahmen hänge von den Kantonen ab – und diese blieben oft untätig.
Nichts ausser Kaffee
Auch den Vorschlag der Arbeitgeber, entsandten Arbeitnehmern eine Übernachtung im Hotel vorzuschreiben und so durch die Hintertür höhere Spesen aufzubürden, halten die Gewerkschaften für wirkungslos. Die ausländische Firma könne die Kosten auf den Arbeitnehmer abwälzen. Damit würde der Lohnschutz gleichwohl torpediert.
Man habe zwar viel mit Vertretern des Bundes und der Arbeitgeber gesprochen und nach Lösungen gesucht, sagt SGB-Präsident Maillard. «Wir haben Kaffee serviert bekommen, aber keinen einzigen Vorschlag gehört, wie der Lohnschutz wirksam gestärkt werden soll.»
Der Vorwurf der Untätigkeit treffe «überhaupt nicht zu – das ist reine Behauptung», wehrt sich ein Sprecher des Arbeitgeberverbands. Aus den gemeinsamen Arbeiten sei ein detaillierter Bericht mit verschiedenen Vorschlägen für Kompensationsmassnahmen entstanden. Die jetzige Kritik der Gewerkschaften halten die Arbeitgeber deswegen für fehl am Platz.
«Erwartbare Kritik»
Und wie reagiert die EU? «Die Kritik der Gewerkschaften war erwartbar», sagt Andreas Schwab. Der deutsche Christdemokrat leitet die Delegation im Europaparlament, die für die Beziehungen zur Schweiz zuständig ist. Für Schwab zeigt die Kritik von SGB und Travailsuisse mit Fokus auf der EU-Spesenregelung, dass die Sondierungen bei den anderen Streitpunkten beim Lohnschutz auf gutem Weg seien. Man werde auch bei der Frage der Spesen eine Lösung finden. Es werde nicht zu einer Aushöhlung des Schweizer Lohnschutzes kommen, das sei auch nicht im Interesse der EU.
Schwab setzt darauf, dass das gemeinsame Dokument bis Ende Jahr Grundlage für ein echtes Verhandlungsmandat wird. Unklar ist, ob die EU-Kommission weiterhin daran festhält, dass dieses Dokument vom Gesamtbundesrat unterschrieben wird. Das war ursprünglich der Plan in Brüssel, um die Schweiz auf das Ergebnis der Sondierungen behaften zu können und jahrelange vergebliche Verhandlungen wie beim Rahmenabkommen auszuschliessen.
Die EU-Kommission dürfte am Mittwoch oder in der Woche darauf in einer Stellungnahme das grüne Licht des Bundesrates für ein Mandat offiziell begrüssen. Es sei nicht geplant, das gemeinsame Dokument zu veröffentlichen, so EU-Diplomaten.
Nach der lauten Kritik der Gewerkschaften stellt sich die Frage, welche Bedeutung die eigentlichen Verhandlungen nach den Sondierungen noch haben. «Die ausgearbeiteten Landezonen lassen noch ausreichend Gestaltungsspielraum für die politischen Verhandlungen», sagt Andreas Schwab. Den Fokus der Kritik auf das Verfahren wertet der EU-Abgeordnete als Indiz dafür, dass die Differenzen beim Inhalt nicht sehr gross seien.
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