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Das Urteil im Fall Sanda Dia
Tödliche Studententaufe in Belgien – er wollte einfach nur dazugehören

Das Wandgemälde an der Aula der Uni Löwen, dreissig Kilometer östlich von Brüssel, zeigt den verstorbenen Sanda Dia.

Er hat den Kopf in beide Hände gebettet, den müden Blick unter gekräuselten Haaren auf den Betrachter gerichtet. So sieht Sanda Dia auf einem privaten Foto aus, das belgische Künstler zu mehreren Wandgemälden inspiriert hat. Eines ist im Riesenformat an einer Fassade in Löwen zu sehen, dreissig Kilometer östlich von Brüssel, wo Sanda Dia Ingenieurwissenschaften studierte bis zu seinem Tod am 7. Dezember 2018. Er starb nach einer bizarren «Studententaufe», die eher an ein Folterritual erinnert. Das ikonische Bild von Sanda Dia steht für jugendliche Träume und studentischen Irrsinn, für Nationalismus und Rassismus, für ein Drama, das weit über Belgien hinaus Beachtung fand.

Vergleichsweise nüchtern wirkt das Urteil, das ein Antwerpener Gericht am vergangenen Freitag im Fall Sanda Dia sprach. Die 18 jungen Männer, die für den Tod des damals 20-jährigen Studenten verantwortlich gemacht werden, müssen 200 bis 300 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten, eine Geldstrafe von 400 Euro sowie Schadenersatz zahlen. Sie wurden der unbeabsichtigten Tötung und erniedrigenden Behandlung schuldig befunden, nicht aber der Verabreichung von schädlichen, möglicherweise tödlichen Substanzen. Der Staatsanwalt hatte Haftstrafen von bis zu 50 Monaten gefordert. Die Verteidiger nannten das Urteil «ausgewogen» und warfen den Medien vor, den Fall aufgebauscht zu haben.

Als Sohn eines mauretanischen Immigranten wollte er Zugang zu einem Kreis junger Männer, die sich als kommende Elite ihres Landes fühlen.

Sanda Dias Vater Ousmane war nach der Urteilsverkündung in Tränen aufgelöst, unfähig zu sprechen. Sein Anwalt sagte, man müsse mit dem Urteil leben, auch wenn man nicht damit einverstanden sei. Im Netz war auch von «Klassenjustiz» die Rede. Die Angeklagten seien wegen ihrer Hautfarbe verschont worden.

Ousmane Dia verlässt nach der Urteilsverkündung im Mai 2023 das Berufungsgericht in Antwerpen.

Sie hatten mit Sanda Dia an der Katholischen Universität Löwen studiert und gehörten einer flämischen Studentenverbindung namens Reuzegom an. Sanda Dia wollte dazugehören. Als Sohn eines mauretanischen Immigranten wollte er Zugang zu einem Kreis junger Männer, die sich als kommende Elite ihres Landes fühlen.

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Das Aufnahmeritual der «Studententaufe» gibt es an Universitäten überall auf der Welt. Neulinge lassen sich dabei von älteren Studierenden mit Alkohol abfüllen und auf jede erdenkliche Weise erniedrigen – ein studentischer Brauch, der in Belgien besonders exzessiv betrieben wird. Erst im November 2021 ist wieder ein junger Mann bei der «Taufe» in der Nähe der wallonischen Stadt Namur gestorben, vermutlich an einem Übermass an Alkohol im Blut. Die Katholische Universität Löwen erliess vor zehn Jahren eine Charta mit Verhaltensregeln für diese Feiern. Reuzegom jedoch, eine der traditionellen Studentenverbindungen, die nicht an die Universität angegliedert sind, weigerte sich, zu unterschreiben.

Er habe die widerwärtigen Aufgaben besonders gut erfüllen wollen

Sanda Dia hatte mit zwei weiteren Anwärtern (flämisch: «Schachten») im Verlauf einer 30-stündigen Tortur zunächst Unmengen Alkohol in sich hineinschütten müssen, darunter eine ganze Flasche Gin möglichst in einem Zug. Die drei waren laut Augenzeugenberichten danach nicht mehr fähig zu sprechen und mussten auf ihre Zimmer getragen werden. Sie durften nichts trinken, die Wasserhähne in den Zimmern waren unbrauchbar gemacht worden. Nach einem kurzen Schlaf wurden sie wieder geweckt. Sanda Dia brauchte Hilfe beim Anziehen, die Tortur sollte nun auf dem Land weitergehen.

Studentinnen und Studenten nehmen im September 2020 an einer Gedenkfeier für Sanda Dia teil.

Man liess die «Schachten» in der Winterkälte eine Grube ausheben, die schnell mit Wasser volllief. Stundenlang mussten sie darin ausharren, mussten einem lebenden Aal den Kopf abbeissen, einen lebenden Goldfisch essen und schliesslich Fischöl trinken, um sich zu übergeben. Danach brach Sanda Dia in seiner Grube zusammen. Zwei Stunden dauerte es offenbar, bis jemand den medizinischen Notdienst alarmierte. Im Krankenhaus massen die Mediziner bei Sanda Dia eine Körpertemperatur von 28,7 Grad. Als letztlich tödlich werteten die Gerichtsmediziner ein Hirnödem als Folge des abnorm erhöhten Natriumgehalts in seinem Blut.

«Als ich noch die Hand meines Sohnes hielt, weil ich ihn einfach nicht gehen lassen wollte, waren die Eltern dieser jungen Männer schon im Kontakt mit ihren Rechtsvertretern, Belgiens Topanwälten.»

Ousmane Dia, Vater von Sanda Dia

Sanda habe alle widerwärtigen Aufgaben besonders gut erfüllen wollen und nicht gewagt zu tricksen, sagte einer der beiden anderen «Schachten» im Gerichtssaal. Vor allem habe er Unmengen Fischöl getrunken. Letztlich sei er «an seiner Ehrlichkeit» gestorben. Das sah Sanda Dias Vater Ousmane anders: Sein Sohn habe in der Studentenverbindung Kontakte knüpfen wollen, aber er habe nicht sein Einverständnis gegeben, «zu Tode gefoltert zu werden».

Die jungen Männer löschten Videos und Fotos von ihren Handys, lösten die Whatsapp-Gruppe auf und versuchten auch sonst, alle Spuren dieser 30 verhängnisvollen Stunden zu verwischen. 

Der Vater sass im Krankenhaus am Sterbebett seines Sohnes bis zu dessen letztem Atemzug. Vor Gericht sagte er, er wolle keine Rache, er fordere keine Haftstrafen. Aber er sei zornig auf die Angeklagten und ihre Eltern. «Als ich noch die Hand meines Sohnes hielt, weil ich ihn einfach nicht gehen lassen wollte, waren die Eltern dieser jungen Männer schon im Kontakt mit ihren Rechtsvertretern, Belgiens Topanwälten.»

Die jungen Männer löschten Videos und Fotos von ihren Handys, lösten die Whatsapp-Gruppe auf und versuchten auch sonst, alle Spuren dieser 30 verhängnisvollen Stunden zu verwischen. Die Universitätsleitung beliess es dabei, sie kurzzeitig zu suspendieren. Sie mussten Sozialstunden leisten und Essays über Studentenverbindungen und deren Rituale schreiben. Reuzegom wurde aufgelöst. Erst die Recherchen der flämischen Zeitung «Nieuwsblad» und eine Seite-1-Geschichte der «New York Times» veranlassten die belgische Staatsanwaltschaft zu ermitteln, zwei Jahre später.

Ku-Klux-Klan-Kutten und Spässe über die Kolonialzeit

In Person der 18 jungen Männer schien nun auch der flämische Nationalismus auf der Anklagebank zu sitzen. Er hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert, als sich die Flamen gegen die Dominanz der französischsprachigen Eliten in Brüssel und Wallonien zur Wehr setzten. Manche Nationalisten arbeiteten während der beiden Weltkriege mit den deutschen Besatzern zusammen. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Flanderns nach dem Zweiten Weltkrieg kamen auch die flämischen Eliten zu Reichtum. Im politischen Alltag Belgiens vertreten zwei Parteien das Streben nach flämischer Unabhängigkeit: die rechtsgerichtete Neu-Flämische Allianz, die den Regierungschef der Region Flandern und auch den Bürgermeister von Antwerpen stellt, und die rechtsextreme Vlaams Belang. Letztere widersetzt sich immer wieder Versuchen, das Grauen der belgischen Kolonialgeschichte im Kongo aufzuarbeiten. Diese ganze flämische Melange fand sich offensichtlich im Alltag der 1946 gegründeten Studentenverbindung Reuzegom wieder.

Der Hauptangeklagte im Antwerpener Prozess nannte Zeugen zufolge Adolf Hitler «unseren guten Freund» und kündigte an, die Aufnahmeprüfung für Sanda Dia und seine beiden Leidensgenossen solle «wirklich brutal» werden.

Studenten, die Aufnahme bei Reuzegom finden wollten, wurden gefragt: Wie viel verdienen die Eltern? Welche Autos stehen in der Garage? Habt ihr einen Swimmingpool im Garten? Es gibt Berichte, Reuzegom-Studenten hätten sich in Ku-Klux-Klan-Kutten gekleidet, hätten sich in Liedern über die abgehackten Hände von kongolesischen Kindern während der belgischen Kolonialzeit lustig gemacht. Zwei Monate vor seinem Tod sei Sanda Dia bei einem Reuzegom-Abend mit dem N-Wort rassistisch beleidigt worden, berichtete ein Kommilitone. Offenbar fiel auch der Satz: «Schwarze Menschen müssen für Weisse arbeiten.» Der Hauptangeklagte im Antwerpener Prozess nannte Zeugen zufolge Adolf Hitler «unseren guten Freund» und kündigte an, die Aufnahmeprüfung für Sanda Dia und seine beiden Leidensgenossen solle «wirklich brutal» werden.

In den Gerichtsakten findet sich jedoch keinerlei Beleg dafür, dass Sanda Dia bei der «Studententaufe» aus rassistischen Gründen besonders schlecht behandelt wurde. Die Verteidiger verwiesen darauf, alles sei mit dem Einverständnis Sanda Dias geschehen. Einige der Angeklagten entschuldigten sich während des Prozesses bei den Angehörigen. Sanda sei ihr «Freund» gewesen, sagten sie, was der Vater empört zurückwies. Einen Freund lasse man nicht einfach zurück, wenn es ihm schlecht gehe.

Zu diesem Satz gibt es ein Bild, es fand während des Prozesses den Weg an die Öffentlichkeit, aufgenommen offenbar von einem seiner Peiniger: Sanda Dia, bewusstlos im Gras liegend, alleingelassen in einer eiskalten Dezembernacht.