Bedrohtes Naturwunder in Bosnien«Der Fluss soll erstickt werden»
Die Neretva ist einer der letzten Wildflüsse in Europa. Nun sollen dort Dutzende Staudämme gebaut werden. Eine Geschichte über ein bedrohtes Ökosystem, das Hoffen auf ein Wirtschaftswunder – und die Rolle der Chinesen.
Ein Gewässer von eisigem Blau und smaragdfarbenem Grün ist die Neretva, mehr als 200 Kilometer mäandert sie vom Dinarischen Gebirge in Bosnien-Herzegowina hinab zur kroatischen Adria, sie fräst sich schroffer und tiefer durch Schluchten als alles, was wir aus den Alpen kennen. In grossen Teilen noch wild: nicht begradigt, abgeleitet, von Dämmen stranguliert. Klar und kühl, einer der kältesten Flüsse der Erde. Eingefasst von Wäldern, in denen die Einheimischen noch ein Gewehr umschnallen, wenn sie sich ins Unterholz wagen: der Wolf, der Bär, die Wildschweine.
Heimat der Weichmaulforelle, des Otters, bedrohter Krebse, Heimat aber auch von Wesen, von deren Existenz wir womöglich noch gar nichts wissen: weil sie tief unter der Erde leben, in Höhlensystemen, die das einzigartige Karstgestein durchziehen, das die Gebirge des Balkans ausmacht.
Die Neretva hat zwei Gesichter. In Teilen sieht sie so aus, wie man sich einen Fluss vorstellt. Im Oberlauf aber führt das Flusssystem ein Doppelleben, das nur im Karst vorstellbar ist. Es ist jedes Jahr das gleiche Spiel: Eben noch tosten die Winterwasser über die Ebenen oben in den Bergen, dann, irgendwann von Mai oder Juni an, saugt das löchrige Karstgestein wie ein Schwamm die eben noch mächtigen oberirdischen Ströme nach unten. Der Fluss, genau genommen ein Netz aus Strängen mit vielen Zuflüssen, verschwindet – aber er ist nicht weg: Er sucht sich seinen Weg nun unter der Erde in Bassins und Kanälen und Canyons, die noch kein menschliches Auge erblickt hat – und wird erst auf der anderen Seite der Berge wieder ausgespuckt. Mit den Niederschlägen des Winters dann schwappt das Gewässer auch im nur scheinbar trockenen Hochland wieder über die Erde und verwandelt, was noch eben ein Bett aus Gras und Blüten war, erneut in einen fliessenden Strom.
«Als wären es Gezeiten», sagt Ulrich Eichelmann von der Nichtregierungsorganisation Riverwatch: «Der Fluss atmet», seit Millionen Jahren. «Die Neretva», sagt Eichelmann, «ist ein in ganz Europa einzigartiges Flusssystem, mit einer Artenvielfalt, wie wir das sonst kaum woanders sehen.» Die Frage ist: Wie lange noch?
Die lokalen Behörden rücken der Neretva mit Baggern und Radladern und Zement und Beton auf den Leib. Sie wollen Staudämme bauen. Viele Dämme.
Riverwatch zählte zuletzt um die 70 geplante Dammprojekte an der Neretva und ihren Zuflüssen. Die Bauherren versprechen Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum und grüne Energie. Ulrich Eichelmann sagt: «Der Fluss soll erstickt, erschossen und erhängt werden.»
Eine kleine Brücke in den Bergen, eine Holzhütte, draussen ein Tisch. Es ist Herbst an der Neretva, Eichelmann entfaltet eine Karte, darauf der Fluss und all die geplanten Tatorte.
Beim Örtchen Ulog – die Neretva fliesst hier ganzjährig oberirdisch – bekommt man einen Vorgeschmack auf die Zukunft, wie sie sich die Planer vorstellen. Der Ort gehört zur Republika Srpska, das ist der mehrheitlich serbisch bewohnte Teil des Bundesstaates Bosnien und Herzegowina. Hier wird der erste der neuen grossen Dämme schon in eine tiefe Schlucht getrieben. Eine 53 Meter hohe Staumauer für ein 35-Megawatt-Kraftwerk. Seit zehn Jahren schon baut die chinesische Firma Sinohydro im Auftrag der Firma EFT, die einem serbischen Geschäftsmann gehört und ihren Sitz in London hat – es gab viele Verzögerungen, auch wegen Erdrutschen. Die Fertigstellung war einmal geplant für 2023, aber die Arbeiten sind noch lange nicht beendet.
Ulog ist ein weitgehend verlassenes Dorf. Zu Titos Zeiten lebten hier 500 Menschen, war der Ort Verwaltungs- und Versorgungspunkt für Dutzende weitere Weiler in den Bergen ringsherum. Heute verfallen die Häuser.
Gerade zwölf Einwohner zählen sie noch. Die meisten treffen sich allabendlich bei Boban Škrkar, der in einer kleinen Holzhütte direkt am Wasser eine Kneipe betreibt.
Heute Morgen lädt der Wirt zum Apfelschnaps. Im Hauptberuf ist Boban Škrkar Fischaufseher an diesem Teil der Neretva. Er bittet nach draussen, auf einem Tisch breitet er den Fang des Morgens aus: fünf Adria-Forellen fürs Abendessen. «Es gibt kein Leben ohne Wasser», sagt er.
Dann winkt er seinen Neffen herbei, der sein Handy aus der Tasche zieht und Fotos zeigt: Auch die Bilder zeigen tote Forellen, aber diese wurden schon tot angespült ans Ufer. Das Wasser des Flusses auf den Bildern ist von kalkigem Weiss. «Irgendwas haben sie am Damm ins Wasser gespült, vielleicht ihre Maschinen gewaschen», sagt Boban Škrkar. «Nun sind die Fische auf viele Kilometer flussabwärts tot.» Die Stelle ist 20 Autominuten von Ulog, wir steigen dort die Schlucht hinab: Auch jetzt, einen Monat später noch, ist das Wasser weiss und milchig.
Die Berner Konvention empfiehlt einen Baustopp
Es gab eine Umweltverträglichkeitsprüfung 2011, die dem Dammprojekt eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellt und die Vertreter von Umweltorganisationen wie das bosnische Center for Environment einen «Witz» nennen. Es gab eine einzige öffentliche Anhörung, im Oktober 2010 in der nahen 1700-Seelen-Gemeinde Kalinovik, nicht aber in den betroffenen Städten flussabwärts.
Nachdem eine Koalition von Naturschutzgruppen eine Beschwerde bei der Berner Konvention eingereicht hatte (so nennt sich das Übereinkommen des Europarates über die «Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume» in Kurzform), inspizierte diese 2021 das bedrohte Ökosystem der Neretva – und verabschiedete Ende 2022 Empfehlungen, in denen unter anderem ein sofortiger Baustopp des Ulog-Damms gefordert wurde.
In Ulog aber wird weitergebaut.
Der Investor, die Firma EFT, sagte lokalen Medien, er baue im Einklang mit den örtlichen Gesetzen, ausserdem bringe der Damm Arbeitsplätze. Ein Argument, das der Bürgermeister des nahe gelegenen Kalinovik, Radomir Sladoje, wiederholte, als er im August vergangenen Jahres eine kleine Ansprache hielt vor einer Gruppe in Ulog versammelter Wissenschaftler: «Wir sind eine kleine Gemeinde, wir brauchten eine Finanzspritze.»
Die Region gilt als Wiege der Artenvielfalt
Mehr als 60 Wissenschaftler aus 17 Ländern waren da zusammengekommen, um zum zweiten Mal bei einer «Neretva Science Week» das Ökosystem des Flusses und seiner Umgebung zu erforschen. Das Camp hat Gabriel Singer, Gewässerökologe von der Universität Innsbruck, als Wissenschaftler geleitet. Am Telefon schwärmt er von der Neretva, vom intakten Fliessgewässer, von der Habitat-Vielfalt. Es hat seine Gründe, warum die Biodiversität im Balkan für europäische Verhältnisse besonders gross ist: Die für viele Arten tödlichen Gletscher der Eiszeit schafften es nicht so weit in den Süden. Die Region ist das, was Wissenschaftler ein «evolutionary cradle» nennen – eine Wiege der Artenvielfalt. Die Teilnehmer der Science Week in Ulog fanden und katalogisierten allein in der einen Woche mehr als 1300 Arten.
Und in die Unterwelt der Karsthöhlen hat man sich dabei noch gar nicht vorgewagt: «Der Balkan ist ein Hotspot, was Karstsysteme angeht, das ist von globaler Wichtigkeit», sagt Singer. Systeme von «unvorstellbarer Komplexität» seien das. Das Wissenschaftler-Camp organisiert hat Riverwatch-Geschäftsführer Ulrich Eichelmann. Gemeinsam mit lokalen NGOs möchte er erreichen, dass die heute noch unberührten Teile der Neretva zu einem Schutzgebiet erklärt werden.
Jetzt stapft Eichelmann in Fischerstiefeln durch die Neretva, dem Neffen von Wirt Boban hinterher, der – Gewehr über die Schulter, Angel in der Rechten – durchs kalte Wasser hinauf zu den Stromschnellen kurz vor Ulog eilt, einem seiner Lieblingsplätze.
«Ich kenne keinen Fluss in Europa», sagt Eichelmann, «der im Moment so bedroht ist und dabei so einzigartig.»
Eichelmann und seine Mitstreiter sind keine, die schnell aufgeben würden. Ein naturbelassenes Flusswunder, Dutzende geplante Staudämme, eine uneinsichtige Regierung – sie haben all das gerade erst schon einmal erlebt, in Albanien, mit dem Flussystem der Vjosa. Auch dort erschien ihr Kampf jahrelang vergeblich, und dann, in letzter Minute, gab die Regierung nach: Die Dammpläne wurden gestoppt, und die Vjosa wurde mit all ihren Zuflüssen zu Europas erstem Wildfluss-Nationalpark erklärt. Nicht einmal ein Jahr ist das her.
Bei der Fahrt von Ulog hoch zu den Karstfeldern versteht man, warum manche vom Tourismus als mögliche Einnahmequelle träumen.
Auf 1200 Meter, das nackte, von Gras überzogene Morineplateau, sanft gewellt, die einzigen Zeugnisse menschlicher Besiedelung, ein einsamer Schäfer mit seiner windzerzausten Herde und gewaltige Steinquader: Überreste eines mittelalterlichen Friedhofs.
Dann geht es wieder hinab in die Nevesinje-Ebene, ein gewaltiges Karstfeld, 180 Quadratkilometer gross. Diese Felder werden hier Poljes genannt, Feuchtgebiete, Heimat von Seen, Sümpfen, Feuchtwiesen. Die Poljes sind das Bett auch für die Flüsse, dann, wenn das Winterwasser sie wieder aus dem Untergrund hochtreibt.
Der Zalomka-Fluss zum Beispiel. Abstieg zur Biograd-Sinkhöhle. Hier verschwindet die Zalomka im Berg, um nach einer langen Reise unter der Erde auf der anderen Seite des Berges, in Herzegowina, wieder aufzutauchen. Messstäbe zeigen den Wasserstand: Wo im Oktober an der Oberfläche nur mehr ein Rinnsal plätschert, fliessen nach Regenzeit und Schneeschmelze die Wasser mehr als zehn Meter hoch.
Die Chinesen brachten das Geld
Bei der Weiterfahrt durch fast menschenleere Natur am Wegesrand ein Graffito: «Baut keine Dämme!» Genau hier soll der Dabar-Damm entstehen. Der erste einer ganzen Reihe geplanter Dämme, mit denen die Republika Srpska auch die Wasser der Poljes nutzbar machen möchte. Dem Millionen Jahre alten Spiel der Flussgezeiten im Karst sollen diese Dämme ein Ende setzen. Damit das Wasser in Zukunft nicht mehr versickert, soll es in kilometerlange, schnurgerade, gewaltige Kanäle aus Beton geleitet werden, 85 Prozent allen Wassers sollen abgeleitet werden. Die ersten Pläne dafür gab es schon in den 1950er- und 1960er-Jahren. «Lange hatte die Regierung das Geld dafür nicht», sagt Vladimir Topić vom Center for Environment in Banja Luka: «Bis die Chinesen kamen.»
Bei der Weiterfahrt am Strassenrand Banner mit chinesischen Schriftzeichen: «Achtet auf die Qualität». Chinesische Arbeiter, einzelne Baumaschinen.
Den Dabar-Damm baut seit Juni 2023, im Auftrag der Republika Srpska, die China Energy Gezhouba Group. 338 Millionen Euro soll der Damm kosten, 180 Millionen Euro kommen als Kredit von der China-Exim-Bank. «Die Chinesen bringen das Geld selbst mit», sagt Andrey Ralev von der NGO Bankwatch. «Und es scheint, als passten sie sich sehr leicht an die lokalen Umstände an, was zum Beispiel das Problem der Bestechlichkeit angeht.»
Energie ist ein grosses Geschäft in Bosnien und Herzegowina. «Für uns selbst hätten wir mehr als genug», sagt Vladimir Topić. Energie ist Exportprodukt Nummer eins: Ein Viertel des hier produzierten Stroms geht ins Ausland. Die Regierung sagt, es brauche auch deshalb mehr Wasserkraft, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen: Bis 2030 sollen mehr als 40 Prozent des Energiekonsums aus erneuerbaren Energien stammen. Umweltschützer halten dagegen, das Land müsse mehr auf Wind und Sonne setzen. «Wasserkraft mag zwar erneuerbar sein, aber wenn sie einzigartige Lebenswelt zerstört, dann ist sie das Gegenteil von nachhaltig», sagt Andrey Ralev von Bankwatch.
Und es ist fraglich, ob wirklich Nachhaltigkeitsziele hinter der Politik der lokalen Regierung stehen. An einer Baustelle stehen Lastwagen der Firma Integral, die das Projekt mitbaut. Der kürzlich verstorbene Integral-Chef Slobodan Stankovic war ein enger Freund des Präsidenten der Republika Srpska, des Nationalisten und Provokateurs Milorad Dodik. Die US-Regierung setzte Bauunternehmer Stankovic Ende 2022 erst auf ihre Sanktionsliste. Der US-Bericht spricht von «Korruptionsbeziehungen»: «Der Grossteil des Vermögens von Stankovic stammt aus öffentlichen Geldern.»
Ein «Antidiffamierungsgesetz» soll Kritiker mundtot machen
Solche Kritik öffentlich zu üben, ist nicht mehr leicht für Naturschützer hier: Im Juli vergangenen Jahres erst verabschiedete das Parlament der Republika Srpska ein umstrittenes «Antidiffamierungsgesetz», das die «Verleumdung» unter anderem von Regierungsvertretern verbietet. Bürgerrechtler sehen es als Instrument, um Kritiker mundtot zu machen.
Letzter Stopp. Unten, auf der anderen Seite des Berges, wo es zur Adria nur mehr knapp 40 Kilometer sind, im idyllischen Städtchen Blagaj, das zur Herzegowina gehört. Blagaj liegt an der Buna, auch sie ein Zufluss der Neretva.
Die Buna entspringt hier aus einer Höhle an einer steilen Felswand, an die ein Künstler vor 600 Jahren ein Derwischkloster getupft hat.
Es ist das Wasser aus den Karstfeldern hoch oben in der Republika Srpska, auch das Wasser des Flusses Zalomka, den wir oben im Fels haben verschwinden sehen, das die Buna hier speist. Die Quelle wird jedes Jahr von Zehntausenden Touristen bestaunt.
Wissen die Menschen, was der Buna droht und den anderen Flüssen hier unten, wenn die Dammpläne auf der anderen Seite der Berge Wirklichkeit werden? «Die Untergrundflüsse sind einzigartig. Aber wenn du etwas nicht sehen kannst, dann stellen viele Menschen die Verbindung nicht her», glaubt Ulrich Eichelmann. Eines sei sicher, sagt er dann noch: «Mit dem Karst legt sich keiner ungestraft an.»
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