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Bilanz von Baume-Schneider
Sie hört zu, wo ihr Vorgänger dozierte

Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (SP) am 29.09.2023 in Bern. Foto: Raphael Moser / Tamedia AG
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Die lauen August-Abende auf der Piazza Grande in Locarno sind vielleicht der verdiente Lohn für die viele Mühsal mit AHV und Krankenkassen. Wer das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) führt, ist nicht nur für Sozialwerke und Gesundheitswesen zuständig, sondern auch für die Kultur - und da gehört der alljährliche Besuch beim Locarneser Filmfestival zum angenehmen Pflichtprogramm. Der vormalige EDI-Vorsteher Alain Berset zeigte sich hier stets von seiner entspanntesten und bestgelaunten Seite.

Für seine Nachfolgerin Elisabeth Baume-Schneider verlief die Locarno-Premiere diese Woche allerdings etwas weniger erholsam, als sie sich dies wohl erhoffte. Am Dienstag musste das zu ihrem Departement gehörige Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) bekannt geben, dass die Finanzperspektiven der AHV grobe Rechenfehler enthalten und die Ausgaben bisher zu hoch veranschlagt wurden. Aus allen Lagern gibt es seither Kritik, die Linke will die Abstimmung über das Frauenrentenalter wiederholen lassen. 

Baume-Schneider ihrerseits kündigte eine Administrativuntersuchung an, genauer gesagt: Sie teilte es per Communiqué mit. Auf den Trip nach Locarno wollte die SP-Bundesrätin nicht verzichten; den Fernsehauftritt zum AHV-Missgriff überliess sie BSV-Direktor Stéphane Rossini. Dies trug ihr eine Rüge der NZZ ein: «Sobald beim Bund Fehler passieren, schicken Bundesrätinnen und Bundesräte ihre Chefbeamten vor», kritisierte das Blatt.

Nachhaltig trüben dürften diese Schlagzeilen Baume-Schneiders Festivalvergnügen allerdings nicht. Denn angelastet wird ihr die AHV-Affäre, wo die Fehler lange vor ihrem Start geschahen, insgesamt kaum. Überhaupt ist es um Baume-Schneider, die als Justizministerin letztes Jahr in der Dauerkritik stand, seit ihrem Departementswechsel vor acht Monaten auffällig ruhig geworden. 

Als Asylministerin in Dauerkritik

Die plötzliche Stille widerspiegelt die unterschiedlichen Aktualitätszyklen im Justizdepartement (EJPD) und im EDI. Im EJPD, das Baume-Schneider nach ihrer Wahl in den Bundesrat Ende 2022 gegen ihren Willen übernehmen musste, hat man es vor allem mit dem Asylwesen zu tun. Hier zwingen einen saisonale Grossandrange und notorische Platznot in ein fast permanentes Krisenmanagement, das Baume-Schneider mit eher wenig Fortüne meisterte. Einen nachhaltig negativen Eindruck hinterliess sie mit dem gescheiterten Versuch, im Parlament die Mehrheiten für die von ihr beantragten Containerdörfer zu organisieren.

Im EDI hingegen, wo sich Baume-Schneider nach nur einem EJPD-Jahr hinflüchtete, ist alles auf Jahre und Jahrzehnte angelegt, viele gesetzliche Korsette schränken die Handlungsoptionen ein. Akutsituationen wie im Asylwesen gibt es kaum. Reformen bei Altersvorsorge und Gesundheitswesen verlangen vielmehr nach langwieriger politischer Knochenarbeit. Es ist dies die Welt, in der sich Baume-Schneider nun bewähren muss – und wo nun erste Unterschiede zu ihrem Vorgänger, auch er ein Sozialdemokrat, deutlicher hervortreten.

Es sind vor allem Fragen der Taktik und des Stils. Manifest wurde das bei Baume-Schneiders bisher wichtigstem Entscheid zum veralteten Ärztetarif. Hier ringen die Verbände von Krankenkassen, Medizinern und Spitälern seit Jahren erfolglos um eine Reform. Berset pflegte die verschiedenen Lager regelmässig an Runde Tische zu bitten – ein Ritual, das Teilnehmende als wenig konstruktiv in Erinnerung haben: Man ritt demnach mehr oder minder stur auf seinen Standpunkten herum, während sich der Gesundheitsminister als mahnender Staatsmann gerierte, ohne damit nachhaltige Fortschritte zu erwirken. 

Baume-Schneider wechselte die Strategie. Sie führte nach Amtsantritt mit den Akteurinnen und Akteuren viele Einzelgespräche, hörte vor allem viel zu. Dabei entwickelte sie Sensorium für die Stimmungen und Begehrlichkeiten – etwa für die Unzufriedenheit vieler Kassenchefs mit ihren zerstrittenen Branchenverbänden Curafutura und Santésuisse.

Im Juni veranlasste Baume-Schneider den Bundesrat schliesslich zur gewagten Weichenstellung: Können sich die Streithähne bis im November nicht einigen, will die Regierung auf Anfang 2026 in eigener Kompetenz einen Tarif erlassen – ein radikaler Schritt, vor dem Berset noch zurückgeschreckt ist. Die Krankenkassen verkündeten kurz darauf, dass sie ihre Verbände Santésuisse und Curafutura durch eine Nachfolgeorganisation ersetzen wollen, um künftig wieder mit einer Stimme zu sprechen. 

Mutig oder leichtgewichtig?

Für ihre Risikobereitschaft beim Tarifentscheid erhält Baume-Schneider Lob. «Ich merke bei Anlässen mit Leuten aus dem Gesundheitswesen, dass man ihr dafür Respekt zollt», sagt der Berner Mitte-Nationalrat Lorenz Hess. Die Bundesrätin wirke inzwischen auch dossierfester und sei in den Kommissionsdebatten sehr präsent. Der Schaffhauser SVP-Ständerat Hannes Germann konstatiert bei ihr ebenfalls ein «erfrischendes Engagement». Auch er hebt die stilistischen Unterschiede zum Vorgänger hervor: «Berset wurde bei Meinungsverschiedenheiten schnell einmal zynisch, während Baume-Schneider die Probleme einfach weglacht.»

Trotz alledem: Das Manko, als «leichtgewichtig» zu gelten, hafte der 60-Jährigen in der Öffentlichkeit nach wie vor an, glaubt der Polit-Analyst Mark Balsiger. Eine echte Leistungsbilanz sei zwar erst mit grösserer zeitlicher Distanz möglich. Bei einem Mitglied der Landesregierung seien aber die ersten Monate im Amt entscheidend für das Image. Und Elisabeth Baume-Schneider «hatte im Justizdepartement einen Fehlstart». Das Image nach der Startphase zu verbessern, sei «schwierig und zeitaufwendig».

Die wahren Herausforderungen stehen für Baume-Schneider jedenfalls erst bevor. Im Herbst muss sie den dritten happigen Prämienaufschlag in Serie verkünden; die Situation ruft nach schnellen Korrekturen. Mit der anstehenden nächsten AHV-Reform schliesslich wartet ein Generationenprojekt. Viel Gelegenheit zur Imagepolitur – oder zu spektakulärem Scheitern.