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Externe Kinderbetreuung
Ein Kanton trotzt der Schweizer Kita-Krise

Kitabetrieb in Corona-Zeiten in der Kita 1 der GFZ, fotografiert am 27. Maerz 2020 in Zuerich. (KEYSTONE/Christian Beutler)
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In Kürze:
  • Die Stimmung in der Kitabranche ist schlecht.
  • Jede zweite Betreuungsperson hat keine abgeschlossene pädagogische Ausbildung, viele Kitas schreiben Verluste.
  • In Basel gilt seit kurzem ein neues Kita-Gesetz, das die Elternbeiträge verbilligt und die Löhne des Personals anhebt.
  • Auf nationaler Ebene streitet die Politik darüber, wie es mit der Kita-Finanzierung weitergehen soll.

Am Telefon stapelt Alice Mäder tief. «Sie können gern zu Besuch kommen, aber Sie werden in unseren Kitas noch kaum etwas Spektakuläres sehen.»

Seit August ist in Basel ein neues Kita-Gesetz in Kraft, eines der progressivsten der Schweiz. Selbst gut verdienende Eltern zahlen seither pro Monat maximal 1600 Franken für eine Vollzeitbetreuung ihres Kindes. Ab dem dritten Kind übernimmt der Kanton alle Kosten.

Die Löhne der Kita-Betreuerinnen wurden angehoben. Sie verdienen jetzt gleich viel wie das Personal in den schulischen Tagesstrukturen. An den Qualitätsstandards hat der Kanton ebenfalls geschraubt: Mindestens zwei Drittel des Kita-Personals müssen nach einer Übergangsfrist eine abgeschlossene Ausbildung haben.

Zu früh für eine Bilanz – aber neues Kita-Gesetz «begeistert»

Im Vergleich zu vielen anderen Kantonen könnte man dies durchaus als spektakulär werten. Mancherorts zahlen Eltern monatlich locker tausend Franken mehr für eine ganzwöchige Betreuung, bei tieferen Qualitätsstandards.

Mäder präsidiert die Basler Bläsistiftung, die vier Kinderkrippen im Stadtkanton betreibt. Sie sagt, es sei natürlich noch zu früh für eine Bilanz: Ob die Nachfrage zunimmt, ob die Eltern ihre Arbeitspensen erhöhen, ob das Personal länger bleibt, das alles lasse sich nach zwei Monaten noch nicht beurteilen. Darum die Zurückhaltung.

Aber begeistert vom neuen Gesetz, das ist sie schon. «Ich denke, das ist eine Best-Practice-Lösung. Oder sagen wir: zumindest viel besser als alles, was man sonst aus der Branche hört.»

Kita-Branche im Krisenmodus

Tatsächlich ist die Stimmung in der Schweizer Kita-Szene sonst eher düster. Anfang September schlugen die vier grossen Branchenorganisationen gemeinsam Alarm: Die Lage sei ernst und habe sich «zu einer Krise ausgewachsen».

Was sie damit meinen, zeigen die Resultate einer schweizweiten Befragung aus dem letzten Jahr:

  • Jede zweite Betreuungsperson in Schweizer Kindertagesstätten hat keine abgeschlossene pädagogische Ausbildung.

  • In der durchschnittlichen Kita kündigen pro Jahr 30 Prozent des gesamten Personals.

  • Ein Grossteil der Betriebe hat unbesetzte Stellen.

  • Jede dritte Kita schreibt Verluste.

In einem offenen Brief forderten die Branchenorganisationen die kantonalen Sozialdirektorinnen und Erziehungsdirektoren zum sofortigen Handeln auf. Sie verlangen, dass im Kampf gegen den Personalmangel die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Zudem wollen sie, dass in Zukunft nur noch Mitarbeitende mit abgeschlossener, eidgenössisch anerkannter Ausbildung im Betreuungsschlüssel berücksichtigt werden.

Eltern sollen entlastet werden

Maximiliano Wepfer, Sprecher des Verbands Kinderbetreuung Schweiz (Kibesuisse), sagt: «Oberstes Ziel muss es sein, die Qualität in dem Mass zu garantieren, wie es die Kinder verdienen.» Ein weiterer Punkt, der im Brief noch gar nicht angesprochen werde, sei die Situation der Eltern – sie gehörten dringend entlastet. «Es kann nicht sein, dass Familien hierzulande so viel Geld für die familienexterne Kinderbetreuung zahlen müssen wie sonst nirgends auf der Welt.»

Tatsächlich gibt ein Schweizer Paar mit zwei Kindern und einem durchschnittlichen Einkommen 29 Prozent des Lohns für einen Vollzeit-Kitaplatz aus und liegt damit OECD-weit an der Spitze, wie ein Bericht aus dem Jahr 2022 zeigt.

Bundesrat will bei Kinderbetreuung sparen

Jede einzelne Forderung der Branche kostet. Das bestreitet auch Maximiliano Wepfer von Kibesuisse nicht. Er sagt: «Es führt kein Weg daran vorbei, mehr Geld ins System zu pumpen.» Nach Berechnungen des Verbands bräuchte es allein in der Deutschschweiz eine Milliarde Franken jährlich zusätzlich.

Nur: Politisch haben sich die Vorzeichen aus Sicht der Branche seit dem Hilfeschrei noch verschlechtert. Kaum drei Wochen später hat der Bundesrat ein umfassendes Sparpaket vorgelegt. Der grösste Brocken darin ist die familienergänzende Kinderbetreuung. Veranschlagtes Sparpotenzial: über 800 Millionen Franken jährlich.

Es geht dabei primär um Ausgaben, die erst noch auf den Bund zukommen. Das Parlament ringt seit geraumer Zeit um eine Krippenfinanzierung, welche die bisherige Anstossfinanzierung ablösen soll. Erklärtes Ziel war ursprünglich, die Elterntarife zu verbilligen und die Qualität der frühkindlichen Betreuung zu verbessern. Doch nicht nur der Bundesrat wehrt sich dagegen – auch im Parlament stehen die Befürworterinnen je länger, je mehr auf verlorenem Posten.

Kantonaler Flickenteppich

Die Gegnerinnen und Gegner argumentieren, Krippenfinanzierung sei Sache der Kantone.

Ob die aktuelle Lage so dramatisch ist, wie es die Branchenorganisationen behaupten, will die zuständige Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) auf Anfrage nicht kommentieren. Man gebe keine Beurteilung zur aktuellen Lage ab und nehme auch «nicht ad hoc Stellung zu offenen Briefen», heisst es.

Fest steht jedoch: Wie viel die Kantone in das Kinderbetreuungsangebot investieren, ist heute unterschiedlich. Aktuelle Zahlen dazu fehlen, sollen laut SODK aber noch im Herbst publiziert werden.

Anhaltspunkte bietet ein Bericht aus dem Jahr 2020: Damals beteiligten sich 15 der 26 Kantone an der Finanzierung der familienergänzenden Kinderbetreuung. In den restlichen Kantonen lag die Verantwortung bei den Gemeinden.

Diese investieren heute teilweise ebenfalls im grossen Stil ins Kinderbetreuungsangebot. Dies zeigt etwa das Beispiel der Stadt Zürich: Das Parlament hat dort erst im August ein Massnahmenpaket verabschiedet, mit dem die Löhne privater Krippenbetriebe subventioniert werden sollen.

SVP-Nationalrätin sieht Kita-Überangebot

SVP-Nationalrätin Nadja Umbricht Pieren ist Mitinhaberin und Gründerin einer Kindertagesstätte. Sie teilt die Krisendiagnose der grossen Verbände nicht, sondern sagt: «In manchen Gegenden gibt es heute bereits ein Überangebot, weil man so viel gefördert hat.»

Geradezu allergisch reagiert sie auf die Forderung nach strengeren Qualitätsvorschriften. Umbricht Pieren sagt: «Wir ersticken schon heute an der Bürokratie. Werden die Vorgaben zur Ausbildung der Betreuerinnen noch strenger, finden wir definitiv nicht mehr genug Personal.» Sie glaube nicht, dass sich Eltern Sorgen um die Betreuungsqualität machen müssten. «Es spricht sich ja herum, welche Kitas gut sind und welche nicht.»

Für die SVP-Politikerin wäre es nur konsequent, wenn sich der Bund in Zukunft aus der Kita-Finanzierung heraushielte. «Wenn die Bevölkerung in einem Kanton unzufrieden ist mit der Situation, dann soll sie im Gemeinde- oder Kantonsparlament Druck machen. So funktioniert das bei uns in der Schweiz.»

Neues Gesetz löst nicht alle Probleme

Basel lässt sich sein neues Kita-Gesetz im Jahr rund 36 Millionen Franken kosten. Laut Medienberichten zeigt es bereits erste Nebenwirkungen: Demnach mussten im benachbarten Kanton Baselland erste Kitas schliessen, weil Familien wegen der günstigeren Preise in die Stadt ziehen. Auch das Personal wandere wegen der höheren Löhne ab, heisst es.

Solche Fälle kennt Alice Mäder bislang nur aus Erzählungen. Doch auch sie sagt, dass das Gesetz nicht alle Probleme löst. So änderten die Beiträge für die Eltern und die höheren Löhne nichts daran, dass die meisten Kitas extrem knapp kalkulieren. «Man braucht eine Belegung von mindestens 98 Prozent, sonst hat man ein finanzielles Problem. Ich kenne grosse Kitas und kleine – aber alle sind dauernd am Rechnen.»

Für SP-Co-Präsident Cédric Wermuth bestätigen die Schilderungen, wovon er schon lange überzeugt ist: Die Kinderbetreuung sei eben kein Markt wie jeder andere. «Richtig wäre es, Kinderbetreuung nicht als Markt für profitorientierte Unternehmen zu betrachten, sondern als Service public wie die Volksschulen oder die Post.»

Neues Gesetz als Reaktion auf SP-Initiative

Überlasse man die Kita-Finanzierung allein den Kantonen, so Wermuth, dann drifteten die Lebensrealitäten nur noch weiter auseinander. «Es darf nicht vom Wohnort abhängig sein, ob sich Eltern eine externe Betreuung ihrer Kinder leisten können.»

Mit der vor einem Jahr eingereichten Kita-Initiative versuchen die Sozialdemokraten, den Druck auf Bundesebene hoch zu halten. Man könne sich sogar vorstellen, sagt Wermuth, das Volksbegehren zugunsten eines starken, breit abgestützten Gegenvorschlags zurückzuziehen. Genau so war es in Basel – dort war das Kita-Gesetz eine Reaktion auf eine Initiative der kantonalen SP.

Auch wirtschaftsnahe Kreise standen in Basel schliesslich hinter dem Gegenvorschlag. «Nur logisch», findet dies Maximiliano Wepfer von Kibesuisse. Er verweist auf eine Studie der Jacobs-Stiftung, wonach das Schweizer Bruttoinlandprodukt um über 3 Milliarden Franken stiege, wenn 700 Millionen in die Schweizer Kitas investiert würden.

Wepfer sagt: Eine Aktie, die so viel Rendite bringe, müsse ihm zuerst noch einer zeigen.