Interview zur Wohnungsnot«Ich wundere mich, wie viele Studierende allein leben oder zumindest davon träumen»
Filmemacherin und Autorin Doris Dörrie, die selbst kurz im Obdachlosenheim lebte, legt ein Buch übers Wohnen vor. Sie sagt, wieso das Alleinwohnen emanzipatorisch und zugleich Risiko ist.

Doris Dörrie, deutsche Filmemacherin («Männer», «Grüsse aus Fukushima» …) und Autorin von Kinderbüchern und Erwachsenenliteratur («Alles inklusive»), lässt uns in ihrem wohnautobiografischen Essay in ihre wechselnden vier Wände und Lebensumstände hineinspicken, vom Kindheitszimmer in Hannover bis zum Bauernhaus in der bayrischen Provinz. Gleichzeitig guckt die 69-Jährige übers Persönliche hinaus.
Mit uns hat sie über Wohnträume und die Wohnkrise gesprochen und darüber, was Frauenbefreiung und Vereinsamung damit zu tun haben.
Frau Dörrie, Wohnen ist eine der grossen Konfliktzonen unserer Zeit. Auch Ihre Wohnbiografie «Wohnen» erzählt von Matratzen auf dem Boden winziger, kalter Zimmer. Aber Sie fühlten keine Wut und keinen Wohnneid, selbst als Sie als mittellose Studentin in den Beverly Hills die Villen der Reichen besuchten. Wieso nicht?
Ich finde es wichtig, meine biografische Wahrheit zu benennen, nämlich die, dass ich privilegiert bin: Meine frühe Ablehnung von «spiessigen» Lebensformen – ich lebte ja bewusst lange fast ohne Besitz und in wechselnden WGs – kommt vielleicht auch aus der Erfahrung eines stabilen Daheims in Hannover heraus: Da traut man sich einiges. Obwohl meine Eltern nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und des Ausgebombtseins ihr Herz bewusst nicht an vergängliche Dinge hängten.
In New York lebten Sie eine Weile im Obdachlosenheim und eine Zeit lang zur Untermiete bei einer psychisch kranken, latent gewalttätigen Frau, sodass Sie schliesslich kapitulierten und ins sichere Hannoveraner Elternhaus zurückkehrten. Aber nur «zähneknirschend», wie es im Buch heisst?
Ich war darüber nicht froh und zog so bald wie möglich wieder aus; gleichzeitig liess ich mich aber in den Schutz meiner Herkunft hineinfallen, er richtete mich wieder auf. Grundsätzlich muss man seine Privilegien in Augenschein nehmen und sich darüber klar werden, was das eigentlich ist. Ich vermisse, dass wir das vielleicht allgemein zu wenig tun. Gerade in schwierigen Zeiten wie heute muss man sich fragen: Was bedeutet es, so leben und wohnen zu dürfen, wenn anderen dieses Grundrecht des Wohnens komplett entzogen wird? Zum Beispiel den Flüchtlingen aus Kriegsgebieten – sind wir da bereit zu teilen?

Sogar bei jüngeren Menschen heute sieht man allerdings zunehmend den Wunsch, Wohnraum lieber nicht zu teilen.
Ich wundere mich immer, wie viele Studierende allein leben oder zumindest davon träumen. Früher war die Vorstellung «My home is my castle» das Privileg einer sehr schmalen Bürgerschicht – und später, ab den 68ern, deshalb auch etwas Altbackenes. Früher gaben Lehnsherren und dann Fabrikbesitzer mit ihren Arbeiterhäuschen mehr oder weniger vor, wo und mit wem man zu leben hatte. Es ist relativ neu, dass eine breitere Schicht darauf fokussieren kann, wo sie wohnen möchte. Zur Demokratisierung beigetragen haben auch Möbelhäuser wie Ikea. Es war eine Revolution, dass es für fast jeden möglich war, sich zu möblieren und nicht jahrzehntelang bloss sehnsuchtsvoll von einer Schrankwand zu fantasieren. Das war alles erst mal eine Befreiung.
Aber?
Es stellt sich die Frage, ob wir durch diese Art zu wohnen immer mehr unsere Fähigkeit verlieren, Konflikte auszuhalten und zu verhandeln. Denn zusammenzuwohnen, bedeutet auch Reibereien. Immer. Natürlich weichen wir dem gern aus, denn jeder Mensch möchte es möglichst bequem haben, und Reibereien sind anstrengend. Ja, und dann sitzen wir eben alle allein in unseren tollen Wohnungen vor dem Laptop und sind digital verbunden. Aber sind wir dann wirklich verbunden? Und was bedeutet das für den öffentlichen Raum? Was für die Städte, was für den Handel?
«Ich bestelle lieber online und treibe mich selbst so ständig weiter in die Vereinzelung.»
Sie erleben, dass die Innenstädte verkümmern?
Absolut. Darum gehe ich wirklich mit grosser Begeisterung durch die Altstadt in Zürich und denke: «Ach toll, diese kleinen Läden, das ist noch da, und das ist noch da», und ich zittere vor dem Moment, in dem die hiesige Kaffeerösterei H. Schwarzenbach plötzlich weg ist. Im Unterschied zu München, Berlin und anderen grösseren Städten in Deutschland ist nämlich auffallend, dass es hier doch noch vieles gibt. Anderes ist auch bereits verschwunden, denn der Trend zur Aufgabe der kleinen Geschäfte lässt sich wohl nirgends aufhalten.
Wieso?
Wir sind zu bequem. Soll ich mich jetzt wirklich anziehen, bei schlechtem Wetter aus dem Haus und mich bis dahin schleppen? Vielleicht ist das, was ich wollte, auch just ausverkauft, wer weiss. Stattdessen bestelle ich es lieber online und treibe mich selbst so ständig weiter in die Vereinzelung und ruiniere auch den Einzelhandel dabei. Diese Entwicklungen haben sehr stark mit dem individualisierten Wohnen zu tun.

Trotzdem beschreiben Sie die Individualisierung gerade für Frauen auch als emanzipativen Gewinn.
Ja! Sie hat schon sehr mit unseren Frauenbiografien zu tun in den letzten 50 Jahren: Wir dürfen uns als Frauen entschliessen, allein zu wohnen, und können es auch finanzieren. Das hat es vorher noch nie so gegeben für Frauen. Wir können unabhängig sein. Das ist neu und bei weitem auch nicht überall so. Wohnen ist, glaube ich, derart zentral geworden, weil genau dieses Bestimmendürfen über die eigenen vier Wände für Frauen heute tatsächlich eine Möglichkeit ist: eine Errungenschaft der Emanzipation. Allerdings, wie gesagt: Die grosse Vereinzelung, die wir beobachten in den gutgestellten europäischen Staaten, hängt stark damit zusammen.
Ketzerisch gefragt: Ist die Emanzipation zu weit gegangen?
Auf keinen Fall: Gerade in der Pandemie konnte man sehen, dass die Person, die meist den Kürzeren zog, die Frau war. Sie bekam oft kein eigenes Arbeitszimmer, sondern den Küchentisch, übernahm die Kinderbetreuung, das Kümmern um alle, den Pflegerinnenjob. Wie einst bei meiner Mutter, die täglich die Versorgungsinfrastruktur für unsere sechsköpfige Familie aufrechterhielt, aber keinen Raum für sich hatte. Mich beschäftigt es, dass selbst bei jungen Frauen sehr schnell das «Nützlichkeitsnarrativ» greift, sobald sie Familie haben: Alles, was sie tun, muss einen praktischen Nutzen für das Familienschiff haben. Derzeit wird es sogar wieder schwerer, daraus auszubrechen.
Wieso?
Ein antifeministischer, antiegalitärer Backlash kocht gerade hoch – besonders in den USA, aber nicht nur dort. Und die Trump-Regierung fordert dezidiert auch von deutschen und Schweizer Firmen, Frauenförderung und Antidiskriminierungsprogramme abzuschaffen. Erschreckend. Vorwiegend sind es weisse Männer, die da mitmachen, leider aber auch Frauen, das muss man zähneknirschend zugeben; und es ist, wie Trump selbst gesagt hat, eine Racheaktion: «I am your retribution» war einer seiner Wahlkampfslogans.

Können wir hier dagegen überhaupt etwas tun?
Die Bedrohung ist in Amerika viel dramatischer als bei uns, weil es bei uns noch ein soziales Netz gibt. Aber auch hier ist im Moment sehr angstgeprägt, denn wir sehen jetzt, wie schnell es gehen kann, demokratische Institutionen abzuwickeln. Wie sollen die Amerikaner die Entdemokratisierung stoppen? Es ist schwer, das aufzufangen, wenn man Familie hat, Kinder und das Risiko, von einem Tag auf den anderen ohne Job dazustehen. Daher knicken so viele ein. Um jeden Widerstand zu brechen, war Musks Job-Kahlschlag strategisch klug. Erstaunlich ist, dass es so fix ging: In rund 70 Tagen wurde die Gesellschaft komplett umgebaut und das Rechtswesen zunehmend ausgehebelt. Da werde auch ich selbst etwas demütiger.
Inwiefern?
Wir haben die Eltern- und Grosselterngeneration stets angeklagt: Warum habt ihr nichts gemacht gegen den Faschismus? Ich habe das als Kind sogar meiner Mutter vorgeworfen. Dabei war sie zwei Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Jetzt sieht man, wie rasant das geht und wie die Angst überhandnimmt. Dennoch: Der Aufruf an uns in Europa ist, dass wir uns zusammentun, dass wir realisieren, was wir an Rechten und an demokratischer Qualität alles noch haben und verteidigen müssen – mit Wucht und mit Mut. Wir müssen gegensteuern. Andersherum sind es exakt die aktuellen Krisen und Disruptionen, die das Bedürfnis nach einer ganz persönlichen Schutz- und Trutzburg noch befeuern. Man hat das Gefühl, draussen regiere der Wahnsinn.
«Die eigenen vier Wände bekommen als Rückzugsort eine Riesenrelevanz.»
Auch bei Männern?
Wir sehen das Bedürfnis bei vielen, eben sogar bei jungen Leuten jeden Geschlechts. Die äusseren Umstände werden als sehr wacklig und bedrohlich wahrgenommen, und so bekommen die eigenen vier Wände als Rückzugsort eine Riesenrelevanz.
Sie sprechen im Buch Virgina Woolfs feministischen Ruf nach «a room of one’s own» (einem eigenen Zimmer) an, Sie selbst haben aber am liebsten im Café geschrieben oder in den zehn Minuten auf dem Spielplatz.
Also, wenn ich persönlich jetzt die Wahl hätte, in einem ruhigen Zimmer an einem schönen Tisch zu schreiben oder in der Kronenhalle den ganzen Tag hinten in einem Eckchen, würde ich immer den belebten Ort wählen! In der Kronenhalle hatte ich übrigens mein erstes Treffen mit Diogenes-Verlagschef Daniel Keel, mein allererstes Treffen in Zürich. Da hat er mich auf den Platz von James Joyce gesetzt. Was mich – ich war sehr jung – unglaublich eingeschüchtert hat. Trotzdem…

Ja?
So schön das Eckchen im Café auch sein mag, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wohnkrise heute fatal ist. Sie ist eine Folge des Turbokapitalismus und einer verfehlten Wohnungspolitik. Die Städte haben ihren eigenen Wohnraum verhökert an private Investoren. Das kommt jetzt zurück als grosse Krise und hat zur Folge, dass sich die Gesellschaft weiter spaltet – und zwar in die, die in der Stadt wohnen können, und die, die es nicht können. Damit werden die Städte zu einer Burg der Reichen, das sieht man in München sehr genau, in Zürich wahrscheinlich auch. Die Leute werden in die Peripherie verdrängt, und in Deutschland lässt auch der öffentliche Nahverkehr zu wünschen übrig. Zugleich wird die Autonutzung in den Städten erschwert – vor diesem Hintergrund eine zweischneidige Sache.
Eine klassistische, aber umweltfreundliche. Schwierig.
Durchaus, und ich bin keine Wohnbauexpertin. Für mich als Autorin geht es beim Wohnen vor allem um Räume, die man im Kopf wiederbeleben und bevölkern kann. Manchmal inspiriert mich beim Schreiben auch eine Landschaft oder Figuren, bei denen ich mich dann wiederum frage: «Wo und wie wohnen die eigentlich?» In meinen Schreibworkshops sehe ich, dass für viele Menschen die Erinnerung an erste Raumerfahrungen ein Schreibanstoss sein kann. «Wir bewohnen uns selbst, wenn wir uns an unsere Räume erinnern», schreibe ich in meinem Buch.
Rund ums Wohnen gibt es auch die Sprachdebatte. So soll man «wohnungslos» sagen statt «obdachlos» und in den USA «unhoused» statt «homeless». Ist dieser Fokus hilfreich?
Ich finde es immer ganz gut, sich in die Lage dessen zu versetzen, der so bezeichnet wird, und sich zu überlegen: «Wie würde es sich für mich anfühlen in der Situation?» Da findet man oft sehr schnell heraus, dass viele dieser neuen Bezeichnungen doch auch gut sind. Sprache hat sich immer verändert, das ist auch das Tolle, dass sie lebendig ist und Wörter entstehen, die es nie gegeben hat vorher. Man sollte alles ausprobieren, wir werden schon sehen, wenn manches zu kompliziert wird. Das werden wir dann auch wieder lassen.
«Wir müssen rausgehen aus unseren Wohnungen.»
Aber solche Probierphasen haben ein politisches Risiko. Sie werden für den Kulturkampf von rechts verwendet. Wie bewerten Sie die Stärke der AfD in Deutschland?
Es ist bestürzend, zu sehen, dass gerade die jungen Männer die AfD gewählt haben. Dass sie darauf so anspringen und dass die Kulturkampf-Trigger funktionieren, liegt auch daran, dass wir politische Bildungsinitiativen gekürzt haben. Das rächt sich jetzt wahnsinnig. Ausgerechnet auch in Ostdeutschland wurde an der Bildung und an Jugendinitiativen gespart. Deutschland braucht viel mehr Geld für Bildung.
Als jemand, der schon auf der ganzen Welt daheim war von Japan bis Kalifornien – wo würden Sie in der aktuellen kritischen Lage am liebsten wohnen?
Ich finde es schlimm, wenn Leute versuchen, sich abzuschotten und abzukapseln. Es ist verkehrt, quasi das tropische Inselparadies, die Gated Community zu suchen, weil die Welt einem so auf die Nerven geht. Im Gegenteil: Wir müssen rausgehen aus unseren Wohnungen, auf die Strassen und uns verbinden, uns engagieren, da, wo wir sind. Und für mich ist das heute Deutschland.
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