Abstimmung am 24. November340 Verkehrsfachleute empfehlen ein Nein zum Autobahnausbau
Kurz vor der Abstimmung warnen Experten, ein Ausbau führe langfristig zu mehr Stau und Verkehr. Das sind ihre Argumente.

- Über 340 Fachleute lehnen den geplanten Ausbau der Schweizer Autobahnen ab.
- Gründe sind eine fehlende gesamtverkehrliche Betrachtung und alternative Mobilitätslösungen.
- Experten kritisieren auch die zu geringe Berücksichtigung der Stadtentwicklung.
- Sie sagen, langfristig führe der Ausbau zu mehr Verkehr und Stau.
Der Vorgang ist ungewöhnlich und politisch brisant. Über 340 Fachleute aus dem Mobilitätsbereich ergreifen Partei – und wenden sich in einer Petition gegen einen Meilenstein in der Schweizer Verkehrspolitik: den Ausbau der Autobahnen für rund 5 Milliarden Franken.
Am 24. November stimmt das Volk über den sogenannten Ausbauschritt 23 ab. An sechs Stellen soll das Schweizer Autobahnnetz erweitert werden. Bei Genf sollen aus vier Spuren sechs werden. Drei neue Tunnel sind in Basel, Schaffhausen und St. Gallen geplant. Und nördlich von Bern soll die A1 auf einem Abschnitt von heute sechs auf acht Spuren, auf einem zweiten von vier auf sechs verbreitert werden.
Doch gegen das Milliardenvorhaben aus dem Departement von Bundesrat Albert Rösti (SVP) regt sich Widerstand.
Ausgerechnet Fachleute aus dem Mobilitätsbereich empfehlen in einem öffentlichen Aufruf ein Nein zum Ausbau. Professoren, Verkehrsplanerinnen und Mobilitätsexperten gehören zu den Erstunterzeichnern. Die Petition zirkuliert seit wenigen Tagen online und liegt auch dieser Redaktion vor. Der Titel: «Mobilitätsfachleute empfehlen eine Ablehnung zur Autobahn-Vorlage».
Kritik an Vorlage
Im zweiseitigen Papier nehmen die Expertinnen und Experten Stellung zu den Plänen des Bundesamts für Strassen (Astra) – und begründen ihr Nein dazu.
Der Vorlage fehle die gesamtverkehrliche Betrachtung und die Langfristperspektive, kritisieren sie darin. So seien Alternativen zum Spurausbau, wie etwa Mobility-Pricing, zu wenig berücksichtigt worden. Auch die zukünftige Entwicklung der Mobilität werde zu wenig gewichtet. Ebenso fehle eine Koordination mit der Siedlungsentwicklung. Insgesamt sei der geplante Ausbau zu wenig mit den betroffenen Städten und Agglomerationen abgestimmt.
Im Ganzen widerspreche die Vorlage den eigenen Planungsgrundlagen des Bundes, etwa dem Sachplan Verkehr, halten die Petitionäre fest. Bevor man einen Ausbau in Betracht ziehe, müsse man die bestehende Infrastruktur optimieren.
Laut den Experten prognostiziert der Bund ab 2030 einen Rückgang des Autoverkehrs. Dies werde in der Vorlage vom 24. November zu wenig berücksichtigt, die hohen Investitionen in den Ausbau würden «finanzielle Mittel binden, die in effizientere und nachhaltigere Verkehrsprojekte fliessen könnten», heisst es in der Petition.
Ausbau führe langfristig zu mehr Stau und mehr Verkehr in Dörfern
Unter den Petitionären sind verschiedene Fachleute, die in Gemeinden und kantonalen Ämtern arbeiten und dort die Verkehrszukunft planen, etwa der Co-Leiter der Stadtentwicklung Aarau. Oder Professor Martin Raubal, Mitglied des Lenkungsausschusses im Center for Sustainable Future Mobility an der ETH. Auch aus der Westschweiz finden sich viele Namen auf der Liste: etwa der von Professor Yves Delacrétaz von der Fachhochschule Westschweiz. Delacrétaz leitet dort die Gruppe Planung und Entwicklung und war bis zu seiner Berufung zum Professor 2011 Direktor des kantonalen Verkehrsamts in Genf.

Auf Anfrage begründet er sein Nein zum Autobahnausbau mit dem Widerspruch zur Mobilitätspolitik der Kantone, der Agglomerationen und des Bundes. «Diese zielt darauf ab, den Autoverkehr zu begrenzen und Mobilitätsalternativen zu entwickeln», so Delacrétaz. Die nun vorliegenden Projekte «wurden aus einem rein verkehrstechnischen Ansatz heraus entwickelt». Er glaube, dass sie sich als ineffizient und kontraproduktiv erweisen würden. «Es gibt weitaus bessere Möglichkeiten, Mobilitätsprobleme zu lösen, ohne die negativen ökologischen und sozialen Folgen eines Autobahnausbaus», sagt Delacrétaz.
Ein wichtiges Argument gegen den Ausbau ist laut den Verkehrsexperten der absehbare Mehrverkehr: «Empirische Studien und Analysen der bisherigen Ausbauprojekte zeigen, dass der Ausbau von Autobahnen nur kurzfristig Entlastung bringt.» Langfristig führe er wieder zu mehr Verkehr und zu Stau. «Mit der grösseren Kapazität auf den Autobahnen nimmt auch in den Dörfern und Städten der Autoverkehr zu.»
Lanciert haben den Appell die Zürcher Verkehrsplaner Thomas Hug und Marc Vetterli, die sich bei der GLP engagieren und der Vorlage zum Autobahnausbau kritisch gegenüberstehen.
Innerhalb von wenigen Tagen hätten sich 342 Expertinnen und Experten dem Appell angeschlossen. «Das Echo war riesig», sagt Hug. Bisher habe die Bevölkerung nicht die Möglichkeit gehabt, über die Ausbauschritte abzustimmen. «Wir hielten es für wichtig, dass sie unsere Argumente kennt», sagt Verkehrsplaner Hug. Nach einem Fernsehbeitrag zum Thema hätten sich ausserdem Kolleginnen und Kollegen aus der Branche zur Vorlage gemeldet und dazu Stellung nehmen wollen, erklärt Hug den Zeitpunkt für den Aufruf.
Unter den Erstunterzeichnern sind auch die beiden Co-Präsidenten der Schweizerischen Vereinigung der Mobilitäts- und Verkehrsfachleute (SVI). Einer von ihnen ist Benoît Ziegler, Partner beim Planungsbüro MRS, das Verkehrskonzepte für Gemeinden, Städte und Regionen erstellt. Er habe den Appell als Privatperson unterzeichnet und nicht als Co-Präsident der SVI, betont er auf Anfrage.
Strassengebühren und digitale Lösungen gegen den Stau
Das Ja-Komitee, das vom Gewerbeverband angeführt wird, betont im Gegensatz dazu die positiven Effekte eines Ausbaus auf die Lebensqualität in den Städten und Dörfern: Indem man dort den Ausweichverkehr reduziere und auf den Hauptachsen verflüssige, verursache der Verkehr weniger Lärm und Abgase. Ausserdem erfolge der geplante Ausbau nur punktuell und sei mit dem Ausbau anderer Verkehrsmittel, etwa der Bahn, abgestimmt.
Das betont auch das Bundesamt für Strassen, das für den Ausbau zuständig ist. Astra-Sprecher Thomas Rohrbach hält auf Anfrage fest, dass «der Ausbauschritt 2023 in das Raumkonzept und die Verkehrsperspektive Schweiz eingebettet ist». Der Ausbau, über den Ende November abgestimmt wird, stehe auch im Einklang mit den Verkehrsdossiers des Bundes, namentlich dem Programm Agglomerationsverkehr und dem Ausbau des Schienenverkehrs.
Auch an der Digitalisierung des Strassenverkehrs arbeitet man beim Astra, wie Sprecher Rohrbach versichert: Bereits im nächsten Jahr will das Bundesamt das automatisierte Fahren zulassen. Das Strassenverkehrsgesetz wurde bereits entsprechend angepasst. «Wir gehen davon aus, dass im nächsten Jahr als erster Schritt sogenannte ‹Autobahnpiloten› auf bestimmten Strecken eingesetzt werden können», so Rohrbach.
Auch an Mobility-Pricing arbeite der Bund. Zurzeit würden Machbarkeitsstudien zum Thema fertiggestellt, die man dann in einem Bericht zusammenfasse, so Astra-Sprecher Rohrbach. «Gestützt darauf wird der Bundesrat das weitere Vorgehen festlegen.»
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