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Ausgewandert nach Neuseeland
«Wenn die Erde bebt, stelle ich mir sofort drei Fragen»

Franziska Schmidlin vor ihrem Haus, das sie selbst entworfen hat.
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Die Katastrophe ereignete sich am 22. Februar 2011 um 12.51 Uhr Ortszeit. Schon ein paar Monate vorher schüttelte ein Erdbeben die südliche Insel Neuseelands durch. Diesmal liegt das Epizentrum südlich von Christchurch in Lyttelton.

Die Einheimischen sind Erdbeben gewohnt, doch dieses ist anders: Die Intensität ist höher, die Zerstörungskraft grösser. Mit einer Stärke von 6,3 nur fünf Kilometer unterhalb der Erdoberfläche trifft es die Menschen in der zweitgrössten Stadt des Landes unvorbereitet bei der Mittagspause. Die Strassen wölben sich, Häuser stürzen ein, Leitungen bersten, ihr Wasser trägt grauen Schlick in die Stadtviertel.

185 Menschen sterben. Weitere Beben ereignen sich im folgenden Juni und Dezember, zwei Jahre lang wird die Region Canterbury von Hunderten kleinen Erschütterungen heimgesucht.

Diamond Harbour ist nur 15 Kilometer Luftlinie von Christchurch entfernt. Das 1600-Seelen-Dorf sitzt auf vulkanischem Gestein. Auch hier rüttelt es 2011 heftig. Franziska Schmidlin, noch traumatisiert vom ersten Erdbeben, flüchtet ins Freie, ihren Vater, der aus der Schweiz zu Besuch ist, im Schlepptau.

Franziskas zwei Kinder sind in der Schule, ihr Mann Allan ist in der Stadt. Weil die Telefonleitungen tot sind, erreicht sie ihn nicht. «Es war für uns hier draussen der Horror, nicht zu wissen, was los ist», erzählt sie.

Der Hafen von Lyttelton. Wo Fischkutter ankern, lag 2011 das Epizentrum des Erdbebens.

Viele in Diamond Harbour haben Familienangehörige, die in Christchurch arbeiten. Schliesslich kommt Allan nach Hause, für die eigentlich kurze Strecke braucht er drei Stunden. Die folgenden Nächte campiert die Familie im Garten, weil sie sich dort sicherer fühlt.

Sie kann nie ohne Tiere sein

Lyttelton Ende April 2023: Die beiden mächtigen Fischkutter Independent und Irvinga ankern friedlich in der Bucht. Das Meer ist ruhig, es geht kein Lüftchen.

Die Überfahrt mit dem kleinen Passagierboot nach Diamond Harbour auf der anderen Seite der Bucht dauert nur zehn Minuten. Die vielen Einfamilienhäuser Lytteltons schmiegen sich an den Hang des Mount Pleasant, nichts erinnert mehr an die Katastrophe, die sich hier ereignet hat.

Der Himmel an diesem milden Herbsttag ist fast wolkenlos, auf den Trottoirs sammelt sich dürres Laub. Franziska steht im hohen Gras, um sie herum gackern Hühner, die ihr auf Schritt und Tritt folgen. Vom kleinen Teich watscheln Laufenten heran, zwei weisse Tauben greifen flatternd nach dem Geäst eines Baumes.

Auf ihrem Land ist die 59-Jährige umgeben von Vögeln. Die Szenerie passt gut zu ihrem Leben: Sie liebt Tiere und alles, was sich in der Natur bewegt. Schon ihre Eltern müssen früher z’Berg immer anhalten, weil die kleine Franziska unter jedem Stein und jedem Blatt ein Tierchen entdeckt.

Ihr Vater züchtet Tauben, sie möchte einen Chüngel. Im Keller hat sie schon eine Bleibe für ihn eingerichtet, doch stattdessen darf sie einen Wellensittich halten. Mit zehn Jahren beginnt Franziska, Sittiche zu züchten und an eine Zoohandlung zu verkaufen, um sich das Futter leisten zu können. Als sie von zu Hause auszieht, schenkt ihr Freund ihr ein Aquarium. «Ich konnte nie ohne Tiere sein», sagt sie.

Die Schule besucht Franziska im Sankt Gallischen. Sie will sich schon von klein auf zur Naturwissenschaftlerin ausbilden lassen und sieht sich als Entdeckerin, irgendwo im Amazonas auf der Suche nach exotischen Tieren. Doch in den 1980er-Jahren wird ihr gesagt: «Du bist eine Frau, du endest im Labor.»

Blick vom mit Hopfendolden behangenen Balkon auf das ausladende Grundstück.

Aussagen wie diese lassen die junge Frau politisch aktiv werden. Sie wird eine grüne Feministin. In Rapperswil studiert sie Landschaftsarchitektur und schreibt ihre Diplomarbeit in den Bündner Bergen, wo sie Pflanzen kartiert und einen Meliorationsplan für Bergbauern entwirft.

Ein Neuanfang ganz weit weg

Mit ihrem Mann besitzt Franziska heute ein ausladendes Grundstück in Neuseeland. Sie pflanzt all ihr Gemüse und ihre Früchte selbst an. Daneben weiden Schafe und Hühner. Da sie nur einen Güggel halten kann, schlachtet sie die jungen Hähne eigenhändig. «Es ist nicht meine Lieblingsaufgabe – aber ich möchte keine Ressourcen verschwenden.»

Die unbefleckten Weiten Neuseelands inspirieren die Menschen zum Wandern – und zum Filmedrehen.

Mit 25, als sie die lange Reise nach Neuseeland auf sich nimmt, um ihre ausgewanderten Cousinen zu besuchen, begibt sie sich auf ausgedehnte Wanderungen in der Wildnis, am Meer und hoch in den Bergen. Sie verliebt sich in die dortige Natur.

Zurück in der Schweiz, arbeitet Franziska für die Vogelwarte Sempach und kartiert die Biodiversität in Luzerner Gemeinden. Sie zieht nach Heiden in Appenzell Ausserrhoden in ein 250-jähriges Bauernhaus und heiratet ihre Jugendliebe, die ihr einst das Aquarium geschenkt hat.

Im Appenzellerland erlebt sie, wie 1989 die Menschen für die Landsgemeinde nach Trogen laufen, so wie immer, wenn die Bevölkerung abstimmt oder wählt. Doch dieses Mal steht auch Franziska inmitten der Männer und streckt auf dem Platz ihre Hand in die Höhe. Das Frauenstimmrecht ist eingeführt worden, «ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen».

Später arbeitet sie in der Baukommission von Heiden, spielt Volleyball beim lokalen Verein. Ein Auto besitzt sie nicht, sie will aus aktivistischen Gründen nicht einmal in ein solches einsteigen.

Herbstzeit ist in Neuseeland auch Kürbiszeit. Sie lagern vor dem Haus – einen Keller hat die Schweizerin nicht.

Ihr Leben verläuft in geordneten Bahnen, da erkrankt ihr Mann. Vier Jahre kämpft er mit Chemotherapien gegen den Krebs an. In dieser Zeit besuchen die beiden Neuseeland und trampen gemeinsam durchs Land.

Als ihr Mann 1995 stirbt, ist Franziska nicht am Boden zerstört. Über die vergangenen Jahre hat sie den Prozess des Abschiednehmens mit ihrem Mann durchgemacht. Sie sagt: «Ich war mental nie stärker als damals.» Als 31-Jährige ist sie nun bereit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.

Ein Abschied für längere Zeit

Im Frühjahr 1996 kehrt Franziska für ein halbes Jahr nach Neuseeland zurück. Sie trampt allein durch menschenleere Täler und über malerische Berge. In einer Backpacker-Unterkunft wird sie von einem Mann bewirtet, in den sie sich verliebt. Trotzdem kehrt sie vorerst in die Schweiz zurück.

Mit einer Freundin verbringt sie den Sommer auf der Alp. Sie hagen Weiden ein, reden viel, geniessen die Einsamkeit. «Das war meine beste Zeit überhaupt», erinnert sich Franziska. Wenige Monate danach reist sie wieder nach Neuseeland. Beim Abflug sagt sie ihrer Mutter: «Ich komme nicht so schnell zurück.»

Sie wird recht behalten.

Auf der Nordinsel zieht sie bei ihrem Freund ein, mit dem sie bis dahin eine Fernbeziehung geführt hat. Sie kaufen sich ein Stück Land mit einer Lodge, die Franziska führt. Später arbeitet sie als Köchin für ein lokales Spital, dann als Assistenzlehrkraft für Zweitsprachen an der neuseeländischen Primarschule.

Nach dreieinhalb Jahren ist die Beziehung mit ihrem Freund am Ende. Er ist ein Glücksspieler und verliert nicht nur sein, sondern auch ihr Geld.

Vögel haben es der Ostschweizerin angetan. Zuhause hält sie 35 Hühner, sechs Laufenten – und einen Güggel.

Als Franziska wieder allein unterwegs ist, merkt sie, dass die Einheimischen, die Kiwis, zwar freundlich und hilfsbereit sind, einen in der Öffentlichkeit aber kaum beachten oder ansprechen. Kichernd erzählt sie: «Bis zum Punkt, wo ich mich gefragt habe, ob ich jemals wieder einen Mann finde.»

Da lernt sie in der Schule einen Lehrer aus Kanada kennen. «Ich habe mich Hals über Kopf in ihn verliebt», sagt sie und lächelt, als sie an das erste gemeinsame Date denkt. Für das Abendessen fährt ihr künftiger Mann Allan mit dem Velo ganze 25 Kilometer zu ihr. «Das beeindruckte mich.»

Seit 1999 sind sie nun zusammen.

18 Monate nach ihrem ersten Treffen bringt Franziska einen Sohn zur Welt, 20 Monate später eine Tochter.

Eine Gesellschaft, die nicht urteilt

Schon seit vielen Jahren besitzt Franziska neben der Schweizer auch die neuseeländische Staatsbürgerschaft. Sie schliesst ein Masterstudium ab und ist als Ökologin für die Bestäubung von Nutzpflanzen zuständig. Beim nationalen Institut für Pflanzen- und Lebensmittelforschung beobachtet sie, wie Bienen, Schwebe- oder Mistfliegen Früchte und Gemüse bestäuben.

Ums Haus herum wachsen alle möglichen Früchte und Gemüse. Wie dieser Feijoa-Baum, an dem eine Art Guava reift.

Mit ihrem Team erforscht sie, wie in der Landwirtschaft die Bestäubung effizienter funktionieren kann. Dabei lernt sie Insekten kennen, die sie noch nie gesehen hat. «Es macht Spass, neue Spezies zu entdecken.» In Neuseeland soll es noch bis zu 20’000 nicht identifizierte Insekten geben.

In welch paradiesischem Umfeld Franziska lebt, lässt sich am besten mit einer Rundfahrt auf der Halbinsel südlich von Christchurch erfahren. Über Hügel mit saftigen Wiesen führt eine kurvige Küstenstrasse ins Dorf Akaroa. Hier landeten einst französische und später englische Seefahrer. Die Hafenfront mit ihren Palmen, Bänken und Cafés hat etwas von jener in Ascona.

Franziska schlendert über den Kiesweg und sagt: «Ich mag die Mentalität der Kiwis.» Es gebe kaum ungeschriebene Gesetze, wie man sich zu verhalten oder zu kleiden habe. Ausser, dass man hier bei jeder Gelegenheit «bitte» und «danke» sage.

Der Küstenort Akaroa ist über 18’000 Kilometer von der Schweiz entfernt. Und doch erinnert die Promenade an jene in Ascona.

Als sie mit ihrem Mann eine Rückkehr in die Schweiz versucht, muss sie sich nach wenigen Monaten eingestehen, dass für sie der helvetische Lebensstil nicht mehr funktioniert – zu sehr hat sie der neuseeländische geprägt.

Das Geld ist immer knapp

2016 kaufen sie sich ein Stück Land in Diamond Harbour und bauen am Hang ein Haus, das Franziska selbst entworfen hat. Auf Stelzen und ohne Keller, dafür mit gut isolierten Wänden und mehrfach verglasten Fenstern. Was für Schweizer Verhältnisse normal ist, ist hier unüblich. Viele Häuser sind einfach gebaut, ihre Hüllen halten weder Hitze noch Kälte zurück.

Als Anfang 2023 beim Institut das Geld knapp wird, verliert Franziska ihren Job. Ihr Chef teilt ihr vom einen auf den anderen Tag mit, dass sie nicht länger weiterarbeiten kann.

Rückblickend sagt Franziska: «Es ging mir nicht gut. Aber diese Kurzfristigkeit ist eben normal in Neuseeland.» Die Kündigungsfrist bei Jobs beträgt zwei Wochen, genauso wie bei Wohnungsmieten. «Weil nichts garantiert ist, leben wir unseren Alltag intensiv aus.»

In Christchurch ist vieles neu, und es wird weiter gebaut. Graffiti erzählen Geschichten dieser von Erdbeben geplagten Stadt.

Ebenso kurzfristig hat sie nun eine neue Stelle erhalten. Sie darf als Lehrerin an einer Universität ausserhalb von Christchurch Agrokulturwissenschaften unterrichten. Ihr erster Arbeitstag steht bevor, sie ist nervös.

Obwohl Franziska beruflich viel zu tun hat, kann sie finanziell keine grossen Sprünge machen. «Das Leben in Neuseeland, so schön es auch sein mag, ist mit dem hiesigen Lohn sehr teuer», sagt sie und fügt an: «Ich habe keine Gelegenheit, zu sparen.» Das sei okay, denn Geld bedeute ihr ohnehin nicht viel.

Die Wunden sind tief

Seit dem zerstörerischen Erdbeben sind über zehn Jahre vergangen. Vergessen ist das Ereignis in Christchurch aber nicht. «Das Beben steckt tief in uns allen drin», sagt Franziska. Wenn die Erde wankt, fragt sie sich stets drei Dinge: Wo bin ich, wo sind meine Kinder und mein Mann, was mache ich als Nächstes?

Neuseeländische Experten vermuteten zuerst, dass die Erdbeben-Generation widerstandsfähiger als andere sein würde. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Die Region Canterbury mit Christchurch als Hauptort weist bei jungen Menschen eine signifikant höhere Suizidrate auf.

Franziska liebt es, in die Natur einzutauchen. Immer wieder geht sie tagelang in menschenleeren Gegenden trampen.

Die Gegend ist zwangsläufig ein ideales Umfeld für psychologische Studien geworden. Als es wieder einmal bebt, ruft Franziskas Tochter an und sagt: «Ich zittere am ganzen Körper.»

Damals, in der schlimmsten Phase, hat Franziska ihren Kindern nicht einmal mehr Pyjama-Nächte bei Schulfreunden erlaubt. «Weil ich nicht wusste, wie deren Eltern im Ernstfall reagieren.»

Trotzdem möchte Franziska heute an keinem anderen Ort leben. Das hat – neben der umwerfenden Natur – einen einfachen Grund: Die Einheimischen seien warmherzig und stets offen für Neues. «Seit ich hier bin, hat sich so viel verändert. Das Tempo dieses Wandels beeindruckt mich.»

Die neuseeländische Gesellschaft geht mit der Zeit. Und sie schafft es, selbst über die schwierigsten Ereignisse hinwegzukommen. Irgendwie.