Ausgewandert nach Australien«Ich habe meinen Bubentraum verwirklicht: Ich kann so tun, als wäre ich Bauer»
Urs Wälterlin ist beim Schweizer Radio die Stimme aus Down Under. Der Baselbieter lebt seit Jahren in der Wildnis – sie hat ihn geprägt.
An freien Vormittagen wie diesem wandert Urs Wälterin gerne pfeifend ums Haus und legt ein paar Feuer.
Sofort züngeln die Flammen am dürren Gras, an den trockenen Ästen und an der Baumrinde, der kleine Kreis, auf dem er eine Glut entfacht hat, weitet sich innerhalb weniger Minuten aus und hinterlässt schwarze Erde.
Ist Urs ein Feuerteufel?
Das Gegenteil ist der Fall. Der gebürtige Baselbieter tut das, was die Aborigines, die Ureinwohner Australiens, schon seit Jahrtausenden tun: Sie brennen Flächen auf dem offenen Gelände oder im Wald kontrolliert nieder, um so die Landschaft sanft zu erneuern und vor grossen Buschbränden zu schützen.
Kaltfeuer nennen sich diese kleinen Herde, die nicht zu vergleichen sind mit den Feuerstürmen, die Australien immer wieder heimsuchen. Im Hochsommer von 2019 und 2020 brannte es in Down Under lichterloh. Keine 15 Kilometer vom Grundstück von Urs und seiner Frau Christine entfernt wälzte sich das Feuer durch die Kasuarinen- und Eukalyptuswälder. Zurück blieb eine apokalyptische Zerstörung.
«Wir waren bereit, uns sofort zu evakuieren», erzählt Urs, während er auf seinem Rasen mit einer Giesskanne die letzten Flämmchen löscht.
Für Notfälle hat er in der Pandemie einen von Metallplatten geschützten Anhänger gebaut, der mit Küche, Wassertank und Generator ausgerüstet ist. Im Brandfall kann er das Gefährt an seinen Geländewagen hängen und schnellstmöglich das Weite suchen.
Schon lange hat Urs ein Wasserloch ausheben lassen, es ist im Busch sein wertvollster Besitz. Die Wassersicherheit ist ein grosses Problem. Gerade bei Dürre fehlt das Regenwasser zum Waschen, zum Putzen – und, gefiltert, zum Trinken.
Ums Haus herum ist eine Sprinkleranlage installiert, die im Notfall verhindert, dass sich Asche auf der Veranda entzündet.
Fotoalben und wichtige Dokumente lagert Urs in einem Bunker, den er vor einigen Jahren neben dem Haus aus Containern erbauen und mit ausgehobener Erde und Steinen aufschütten liess.
Ist so viel Vorkehrung überhaupt nötig? Ja, findet der 62-Jährige: «Das Feuer ist die grösste Gefahr, die wir hier kennen.»
Seine Frau lernte er am Lagerfeuer kennen
Urs Wälterlin ist in der Schweiz vor allem als Radiostimme bekannt. Er arbeitet als Korrespondent für Australien und den südlichen Pazifik beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). Dafür ist er oft unterwegs, etwa in der Hauptstadt Canberra, in Sydney, Melbourne oder in den entfernteren Ecken dieses Landes, in das die Schweiz 186-mal hineinpassen würde.
Auf Reisen oder zu Hause in seinem Büro und Studio schneidet er Beiträge zusammen, die er anschliessend nach Zürich in den Campus Leutschenbach übermittelt.
Urs erklärt der Schweizer Bevölkerung, was auf dem Kontinent vor sich geht und dass sich hier nicht alles nur um Kängurus oder Rugby dreht. Er spricht über die schleppende Energiepolitik, die ungelöste Abfallentsorgung auf offenen Halden oder sicherheitspolitische Sorgen wegen Chinas steigender Präsenz im Pazifikraum.
Mehrmals pro Jahr begleitet er zudem Reisegruppen aus der Schweiz, um ihnen einen tieferen Einblick in seine Wahlheimat zu ermöglichen.
Die ersten Jahre sind schwierig
Dabei stand Australien eigentlich gar nie auf der Wunschliste. Von seiner früheren Verlobten lässt er sich einst überreden, nach Down Under in die Ferien zu gehen. Eines Abends im Outback treffen sie andere Reisende. Ein junger Deutscher lädt die beiden ein, sich ans Feuer zu setzen, und stellt seine Freundin Christine vor. «Als ich sie sah, wusste ich, dass ich sie heiraten werde», sagt Urs. Und so geschieht es dann auch.
In Pratteln wächst Urs in einer typischen Mittelstandsfamilie auf. Seine Eltern arbeiten in der Pharmaindustrie. Urs möchte eigentlich Bauer werden, stattdessen landet er im Journalismus. Während der Jugendunruhen in den 1980ern kauft er sich eine Kamera und fährt nach Zürich. Seine Fotos verkauft er an die Bildagentur Keystone, wo er bald Fuss fasst und mithilft, ein Farbarchiv aufzubauen.
In der Schule ist Urs, wie er selbst sagt, schlecht. Das Einzige, was er kann: Aufsätze schreiben. Er absolviert die Diplomausbildung an der damals neuen Journalistenschule MAZ in Luzern, arbeitet für verschiedene Zeitungen.
1992 verabschieden er und Christine sich nach Sydney.
Die ersten Jahre sind schwierig. Das Paar fängt bei null an; Christine putzt Hotelzimmer, ehe sie ihrem Beruf als Pflegefachfrau wieder nachgehen kann.
Urs versucht sich derweil als Auslandskorrespondent und berichtet in einem kleinen Fixum für den «Tages-Anzeiger», das «Handelsblatt» und die «Süddeutsche Zeitung», ehe SRF auf ihn aufmerksam wird.
Rückblickend lautet sein wichtigster Rat: «Du musst dich immer anpassen können.» Seine berufliche Karriere begann er mit dem Bleisatzdruck, heute ist er in den sozialen Medien aktiv und nimmt Podcasts auf.
Inzwischen leben Urs und Christine 200 Kilometer südwestlich von Sydney. Sie sind Grossgrundbesitzer geworden, nennen 134 Hektaren Land ihr Eigen, durch das Urs gerne mit seinem Geländewagen fährt oder das er zu Fuss erkundet. «Für einen Korrespondenten ist dieser Wohnort unüblich, die meisten leben in der Stadt. Aber ich bin gerne dort, wo andere nicht hingehen wollen.»
Goulburn ist eine typische australische Provinzstadt. Unaufgeregt, kleinkariert, konservativ. Der Ort war einst bekannt für seine Merinoschafwolle, heute vor allem für die Polizeiakademie des Staates New South Wales sowie für das grösste und bestgesicherte Gefängnis des Landes. Die verhältnismässig günstigen Landpreise haben es dem Paar erlaubt, nach und nach ein riesiges Grundstück zu kaufen.
Während ein Nachbar sein Land für lärmige Motocrossfahrten nutzt, hat Urs aus seinem ein Naturschutzgebiet gemacht. Hier sollen sich Kängurus und Wallabys wohlfühlen, die vielen Schlangen und Spinnen ebenso, wie auch die niedlich aussehenden, aber zuweilen rabiaten Wombats, für die er eine Auffangstation gezimmert hat. In einem Gehege päppelt er verletzte Tiere auf, bis sie wieder stark genug für die Wildnis sind.
Der Baselbieter ist Mitglied einer Organisation, deren freiwillige Helfer bei Autounfällen mit Wildtieren gerufen werden. Wenn Urs zu Hause ist, trägt er das Handy immer bei sich, falls er über die App eine Meldung erhält und ausrücken muss.
Urs verfügt über eine spezielle Waffenlizenz, die ihm das Euthanasieren von Wildtieren erlaubt. «Ich bin gezwungenermassen der Mann fürs Grobe», sagt er. Will heissen: Wenn er am Unfallort eintrifft, der manchmal über 100 Kilometer entfernt liegt, erlöst er die verletzten Tiere von ihrem Leiden mit einem gezielten Schuss. Davor entschuldigt er sich jedes Mal bei Känguru, Wallaby oder Wombat für das, was er gleich tun wird.
Ihm scheine es manchmal, als ob die Tiere ihn förmlich anflehten, sie zu erlösen. «Es ist eine absolute Tragödie, was hier passiert. Der Staat interessiert sich überhaupt nicht für das Tierwohl.»
Während Urs durch eines seiner Waldstücke pirscht, wartet sein Gewehr im Wagen. Doch an diesem Tag muss er nicht ausrücken. Das gibt ihm Zeit, das Wombat-Valley zu inspizieren. Hier im Tal, das nach starken Regenfällen auch mal unter Wasser steht, lassen sich die scheuen Tiere gerne nieder. Mit ihren Vorder- und Hinterbeinen, die sie als Schaufeln benützen, graben sie Löcher, in die sie sich tagsüber zurückziehen.
Zwei Wombats aus der Kolonie wagen sich regelmässig auf das Grundstück von Urs. Sie kennen ihn, eines der Tiere hat er einst eigenhändig aus dem Bauch seiner verunfallten toten Mutter geschnitten.
Hauptsache, einen Beitrag leisten
Auch in seiner Gemeinde ist Urs aktiv – aus Frust, weil er in der Bevölkerung den Enthusiasmus für Klimaschutz vermisst. Mit zwei Frauen hat er die Goulburn Group ins Leben gerufen, eine politisch unabhängige Organisation, die den Leuten hilft, einfacher an Solaranlagen zu kommen, oder versucht, den Klimawandel oben auf die Agenda der Lokalpolitik zu setzen. Ein steiniger Weg.
«Trotzdem haben wir ein paar Erfolge verbuchen können», sagt er. Zum Beispiel die Umgestaltung des Geländes einer stillgelegten Backsteinfabrik am Ortsrand: Einst eine Müllhalde, ist es heute ein Feucht- und Naherholungsgebiet, auf dem sich Vögel niederlassen, Jogger ihre Runden drehen und Kängurus in der Dämmerung an Grasbüscheln knabbern.
Als Präsident ist Urs das Gesicht der Organisation. «Wenn ich dereinst auf dem Sterbebett liege, kann ich wenigstens sagen, dass ich versucht habe, einen Beitrag zu leisten, um die Welt – meine kleine Welt hier – besser zu machen.»
Ein Baum, der seinen Namen trägt
Mittlerweile besitzt Urs den australischen Pass, doch er fühlt sich als Schweizer. Die einheimische Denkweise ist ihm zuweilen zu provinziell. «Australien ist eine Insel – auch in den Köpfen der Menschen.» Deshalb ist er froh, kann er für seine Arbeit ab und zu das Land verlassen – und so den Kopf lüften. Am liebsten zieht es ihn nach Südostasien, Thailand und Vietnam, Kultur und Küche sagen ihm zu.
Wenn Urs auf der Schotterpiste durch seinen Wald fährt, passiert er eine Stelle, wo ein einzelner vernarbter Eukalyptusbaum steht. Ein Teil der Rinde wurde wie eine ovale Scheibe herausgeschnitten. Der Baum befindet sich auf einer früheren Wanderroute der Aborigines. Das Rindenstück haben sie entfernt, um daraus eine kunstvolle Tragschale zu fertigen.
Einmal wollte ein Nachbar den Baum abbrennen, da schritt Urs ein und wurde bei der Gemeinde vorstellig. Letztlich registrierte ein Aborigines-Clan den Baum. Dieser ist heute geschützt und trägt den Namen «Urs Tree». Eine grosse Ehre für den Schweizer.
Er liebt das Leben auf seinem Grundstück, mit seiner Frau und den mittlerweile zwei erwachsenen Kindern, die in Canberra wohnen. «Dieses Land hat uns viel gegeben», sagt er, als er sein Fahrzeug vor dem Haus parkiert. «Ich habe meinen Bubentraum verwirklicht – ich kann so tun, als wäre ich Bauer.»
Dass dieses Land nicht ohne Gefahren ist, weiss er. Der Busch ist verworren, geheimnisvoll, gefährlich gar. Hier haben sich schon Killer und Drogenbosse versteckt, die Braunschlange ist heimisch, ebenso die Sydney-Funnel-Web-Spinne, beide gehören zu den giftigsten ihrer Art. Deshalb ist Urs im Dickicht stets mit festen Schuhen und langen Hosen unterwegs. Er ist nebenbei offizieller Giftschlangenfänger.
Und dann ist da noch die Brandgefahr.
Die unmittelbare Region ist schon lange verschont geblieben, deshalb rechnet Urs damit, dass irgendwann wieder ein grosses Feuer ausbricht. Auch wird er wegen dieser Gefahr sein Haus wohl bald nicht mehr versichern können. Von einem Waldbrand könnte er aus nächster Nähe berichten, Urs ist akkreditierter Reporter bei der Feuerwehr.
«Das Feuer bestimmt die Art und Weise, wie wir im Busch leben», sagt er und inspiziert die Brandstellen vor dem Haus, auf denen er am Vormittag selbst noch kleine Flammen lodern liess.
Falls es wirklich einmal zur Katastrophe kommt, ist zumindest eines gewiss: Urs ist darauf vorbereitet.
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