Ausgewandert nach Indonesien«Hier fühle ich mich so richtig lebendig»
Der Glarner Jonas Müller war daran, eine erfolgreiche Karriere in einem Grosskonzern einzuschlagen. Dann schmiss er alles hin – und baute auf einer winzigen Insel eine Schule auf.
Wer Jonas Müller besuchen will, braucht Zeit und ein wenig Abenteuergeist. Erst nimmt man den Flieger via Singapur nach Jakarta, von dort sinds nochmal vier Flugstunden nach Sorong.
Ab dem Hauptort West-Papuas (nicht zu verwechseln mit Papua-Neuguinea) gehts mit der Fähre weiter, über zwei Stunden nach Waisai, dem «Tor» zum Archipel Raja Ampat. Dann steigt man ins Langboot um.
Der Himmel ist fast wolkenlos, der Bootsmotor rattert, Gischt spritzt auf. Unbewohnte Inseln ziehen vorbei, mit wenig Strand und dichtem Dschungel. An anderen Ufern thronen Hütten auf Pfählen über dem Wasser.
Nach anderthalb Stunden drosselt der Bootsmann das Tempo, in der Ferne zeichnet sich ein dominantes Holzhaus ab. Ein langer Steg führt direkt zum überdachten Eingangsbereich, wo Jonas zur Begrüssung sitzt und winkt.
Endlich am Ziel.
Das zweistöckige Holzhaus ist eine Schule. Seine Schule. Jonas hat sie 2019 innerhalb von nur sechs Monaten erbauen lassen, von Spezialisten aus Sorong und Helfern aus den nahen Dörfern Sawinggrai und Kapisawar. Das Holz dafür stammt aus dem Inselwald, Sand und Kalksteine für den Beton kommen aus dem Meer.
Mit der Schule hat der Glarner seinen Traum verwirklicht. Hier will er so viele Kinder wie möglich unterrichten: «Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung, Gesundheit und eine Perspektive im Leben.»
Das Paradies ist fragil
Jonas führt durchs Hauptgebäude mit Aufenthaltsbereich, Büroräumen und zwei Zimmern für seine Frau Maya und ihn. Er zeigt die Solarpanels auf dem Dach und die blauen Tanks, die Regenwasser für den täglichen Bedarf auffangen. Einzig das Trinkwasser stammt aus dem benachbarten Waisai.
Verzweigte Stege verbinden die verschiedenen Bauten über dem glasklaren Wasser, durch das Schwärme von Fischen ziehen, vorbei an Mangroven, die ihre Wurzeln wie Kabel in den Meeresboden graben.
Auf dem Gelände befinden sich drei Klassen- und ein Lehrerzimmer, eine Küche sowie ein Materialraum. Vier Wohnhütten sind für Lehrkräfte aus dem fernen Java entstanden, ein weiteres Schulgebäude ist geplant. Darin sollen ein Internat, eine Bibliothek und eine kleine Klinik Platz finden.
Dann ist es plötzlich vorbei mit der Ruhe. Jonas hängt am Telefon, seine Miene verfinstert sich. Er muss dringend nach Waisai in die Stadt. Worum es geht, sagt er nicht. Hastig verabschiedet er sich. Was er noch nicht weiss: Er wird zwei Tage wegbleiben.
Raja Ampat ist ein marines Paradies, das Epizentrum der biologischen Vielfalt der Meere. Auf einer Fläche so gross wie die Schweiz erstrecken sich Inseln und Lagunen, in denen sich harte und weiche Korallen wohlfühlen, Rifffische genauso wie Schildkröten, Delfine, Haie, Mantas und Wale. Raja Ampat wird auch als «das letzte Paradies auf Erden» bezeichnet.
So schön der Archipel ist, so fragil zeigt sich sein Ökosystem. Die Bevölkerung Papuas gehört zu der ärmsten Indonesiens. Wirtschaftlichen Aufschwung bringt der zunehmende Tourismus, doch dieser gefährdet wiederum das Naturwunder.
Zwei Tage später. Es ist schon dunkel, als in der Ferne der Scheinwerfer eines Motorboots aufleuchtet. Jonas ist zurück und mit ihm ein Junge aus dem Dorf. Dieser hatte ein Mädchen auf seinem Motorrad mitgenommen, verlor die Kontrolle und verunfallte, beide verletzten sich leicht. Das ist das kleinere Problem.
Das grössere ist, dass die Familie des Mädchens dem Jungen darauf an den Kragen wollte. Und zwar richtig. Jonas: «Wäre ich nicht eingeschritten, hätten sie ihn womöglich umgebracht.» Die lokale Bevölkerung, so liebenswert sie im Alltag ist, handelt oft unberechenbar. Streit kann unter dem Einfluss von Alkohol ausarten, bis es Tote gibt.
Um zu deeskalieren, hat Jonas der Familie des Mädchens Zigaretten, Betelnüsse sowie zwanzig Ess- und vier Zierteller gebracht. Teller gelten in West-Papua als Zahlungsmittel.
Der Einsatz von Jonas hat persönliche Gründe: Der involvierte Junge gehört zu jener Familie, die Jonas kulturell bei sich aufgenommen hat. Er ist also quasi sein Adoptivbruder.
Ein Finanzchef wider Willen
Am nächsten Morgen steht Jonas vor seiner Klasse, das blonde Haar zusammengebunden. Sechs Kinder sitzen im Englischunterricht, auch der am Arm verletzte Junge, den Jonas noch verarztet hat. Papa Guru nennen ihn die Kinder, was so viel heisst wie Lehrer.
Doch Jonas ist viel mehr als das. Er ist Gründer und Leiter der Schule Child Aid Papua, die seit 2020 vom indonesischen Staat anerkannt wird. Er ist Visionär, Geldbeschaffer, Handwerker, Korallenretter und Kommunikator. Ohne Jonas würde dieser Mikrokosmos nicht funktionieren.
Dabei sieht sein Leben vor zehn Jahren noch komplett anders aus: In Näfels im Kanton Glarus aufgewachsen, absolviert er erst das KV bei der Electrolux, ehe er nach dem Betriebswirtschaftsstudium beim Haushaltsgerätehersteller seine Laufbahn startet. Mit 23 wird ihm der Posten als Finanzchef angeboten. «Damals sagte ich mir: Na klar! Und schon war ich im goldenen Käfig gefangen.»
Jonas hätte sogar Controller für ganz Europa und Afrika in Stockholm werden können. Doch als er am Hauptsitz der Firma an einem Meeting teilnimmt, merkt er, dass er sich auf der falschen Bahn befindet. «Die Männer im Sitzungszimmer klagten über ihr Leben», erzählt Jonas. Einer habe sich zu ihm umgedreht und gesagt: «Super, Jonas, wie du Karriere machst, wie ich vor 20 Jahren.»
Genug! Jonas kündigt. Seinen Job, seine Wohnung, sein altes Leben. Er zieht in einen Wohnwagen, wird Veganer, engagiert sich eine Weile für Greenpeace. Er hat genug Geld auf der Seite, um sich diesen Lebenswandel leisten zu können.
Irgendwann schlägt ein Freund Jonas vor, gemeinsam Tauchferien zu machen. Eine 08/15-Destination soll es aber nicht sein. Jonas recherchiert – und findet Raja Ampat im indonesischen West-Papua und dazu nur ganz wenige Informationen. Perfekt!
Doch nicht nur zum Spass geht Jonas auf den Archipel. Mit einer Hilfsorganisation fährt er täglich auf Inseln, um den Kindern in den Dörfern Englischunterricht zu geben.
Zum ersten Mal lebt Jonas über mehrere Wochen nur im Moment. «Ich habe alles aufgesaugt. Es war, als existierte meine alte Welt plötzlich nicht mehr.» Als es Zeit wird, weiterzureisen, bricht für ihn eine Welt zusammen. Einheimische sagen ihm: Bleib doch.
Der junge Glarner durchquert erst einmal Amerika und Kanada, doch seine Gedanken wandern immer wieder nach Indonesien. Auf einem Blatt Papier zeichnet er eine Mindmap und schreibt seine Vision nieder: Eine Schule, die sich neben dem Pflichtstoff auch mit Umweltschutz und Gesundheit befasst.
Jonas kehrt nach West-Papua zurück und wird zuerst Expeditionsleiter eines Hilfswerks. In einem halben Jahr schafft er es, leere Klassenzimmer zu füllen. Doch im Hilfswerk findet Jonas seine Erfüllung nicht, er sucht seinen eigenen Weg.
Wie es der Zufall will, fragt ihn ein Dorfchef, ob er auf der Nachbarinsel Sawinggrai ein kleines Lernzentrum aufbauen möchte. Jonas willigt ein und baut sich eine Hütte über dem Wasser mit Palmwedeln als Dach.
Ohne sanitäre Anlagen, Strom oder fliessend Wasser wohnt und unterrichtet er dort für drei Jahre. Statt auf Stühlen sitzen er und die Kinder auf einer Matte. «So unglaublich das klingt: Ich habe diese Zeit nie als schwer empfunden.» Vielmehr sieht er die vielen Probleme und das grosse Potenzial der Insel.
Ein Oktopus beendet fast sein Leben
Im Jahr 2017 will Jonas einmal nur rasch sein Boot anbinden. Er steigt ins knietiefe Wasser und tritt auf etwas Spitziges. Dieser Schmerz! Ein Stück Holz vielleicht? In seiner Hütte schaut er sich seinen linken Fuss an, da bemerkt er, dass seine Hände schneeweiss sind. Sein ganzer Körper beginnt zu kribbeln, die Finger verkrampfen sich, der Mund schneidet unfreiwillige Grimassen.
Jonas will seinem Adoptivbruder zurufen, Hilfe zu holen, doch er kann nicht mehr sprechen, nicht mehr richtig atmen. Der Junge reisst seine Augen auf und rennt davon. Jonas liegt röchelnd und schreiend am Boden. Sein ganzer Körper ist von Kopf bis Fuss gelähmt, auch die Atemmuskulatur funktioniert kaum noch.
So fühlt sich also Sterben an, denkt er.
Dorfmediziner eilen ins Zelt, setzen eine Wokpfanne mit trockenen Kokosnüssen, Blättern und Gummi auf, entfachen Rauch, stecken Kräuter in seinen offenen Mund. Jonas schwitzt und zittert. Langsam geht sein Atem ruhiger, und seine Hände entspannen sich. Nach einer Stunde fühlt sich Jonas wieder besser. Was zur Hölle ist bloss passiert?
Doch der Spuk ist noch nicht vorbei. Zwei, drei Tage später beginnt sich Jonas’ zweitkleinster Zeh aufzulösen. Er fährt nach Sorong ins Spital, dort reagiert das Personal panisch.
Jonas desinfiziert die Wunde in einer Apotheke und ruft einen Arzt in der Schweiz an. Dieser sagt: Kommen Sie sofort heim! Nach der Ankunft in Zürich wird Jonas geröntgt. Die Knochen im Zeh sind bereits durchlöchert, noch am selben Tag wird ihm der Zeh amputiert.
Ganz sicher ist Jonas auch heute noch nicht, was ihm derart zugesetzt hat. Wahrscheinlich war es ein seltener kleiner Blauring-Oktopus, dessen Gift bei vollem Bewusstsein lähmt und oft tödliche Folgen hat. Im Spital in Glarus jedenfalls ist Jonas am Tag nach der OP bekannt als der Patient mit dem Oktopus-Biss.
Eine Schule mit Vorbildcharakter
Der Zwischenfall bringt Jonas aber nicht von seinem Plan ab. Er kehrt genesen und mit neun Zehen nach Raja Ampat zurück.
Mit der Indonesierin Maya, die er bei seinem letzten Hilfseinsatz kennen gelernt hat, beginnt er, sein Schulprojekt zu verwirklichen. Mit Schweizer Freunden gründet er den Verein Child Aid Papua, der fortan mit Spenden das Projekt finanziert.
Inzwischen besuchen 25 Kinder zwischen 13 und 18 Jahren seine Schule; der Unterricht umfasst die Fächer Mathe, Englisch, Gesundheit, Umwelt, IT und künstliche Intelligenz. Seit 2022 ist die Schule zertifizierter Unesco-Partner. «Wir spüren das Vertrauen der Regierung, aber es ist immer eine Gratwanderung zwischen guten Beziehungen und Abhängigkeiten.»
Mittlerweile hat er sich der heute 33-Jährige in Waisai eine Wohnung gemietet, um für administrative Belange näher an den Behörden zu sein – und um ab und zu etwas Abstand zu gewinnen.
Das Verhalten der Einheimischen macht ihm bisweilen zu schaffen. Ahnen- und Aberglaube sind weit verbreitet. Als ein junger Bekannter an Lepra erkrankt war, setzten dessen Eltern die Medikamente, die Jonas für ihn besorgt hatte, nach nur zwei Tagen ab und wandten sich stattdessen ihren Ritualen zu. Sie schlugen einen Nagel in einen Baum, um die bösen Geister zu vertreiben. Wenige Tage später starb der junge Mann.
«Du musst hier lernen, dich abzugrenzen. Denn fast täglich geschieht Absurdes.» Zum Beispiel seien die Einheimischen auch bei modernen Technologien extrem leichtgläubig. «Wenn sie einen Film sehen, halten sie diesen für echt – selbst wenn darin Superhelden vorkommen.»
Auch verlangen die Eltern seiner Schüler immer wieder von ihm, die Kinder zu schlagen, sollten sie Fehler begehen. Für Jonas natürlich ein No-go.
Mittlerweile hat Child Aid Papua vom Bildungsdepartement Raja Ampat zwei neue Bewilligungen erhalten: Sie ist die erste zweisprachige Junior High School in West-Papua sowie Papua und zudem die erste Senior High School, die einen Abschluss in Meeres- und Ökotourismus anbieten darf.
Im Alltag wird es Jonas nie langweilig. «Ich wünsche es mir manchmal», sagt er und lacht. Von 6 bis 22 Uhr ist er durchgehend beschäftigt. Wenn er sich eine Auszeit gönnt, geht er Speerfischen. Inzwischen lebt er nicht mehr vegan. «Aber wenn ich Fisch esse, will ich ihn zumindest selbst fangen.» Er soll in Raja Ampat zu den besten Jägern gehören.
Es ist Zeit, aufzubrechen. Zwei Helfer warten im ratternden Motorboot. Sie lächeln freundlich und geben dabei den Blick frei auf ihre blutrot verfärbten Zungen und Zähne, was vom hier weit verbreiteten Betelnusskauen kommt.
Entlang der Mangroveninseln kreuzt das Boot einen Wal, der schnaubend Meerwasser aus seinem Blasloch stösst. Eine Frage an Jonas ging vergessen: Was hält ihn schon so viele Jahre in West-Papua?
Er liefert die Antwort umgehend via Chat-Nachricht: «Ich liebe das Leben hier mit all seinen Facetten. Meine Arbeit, die Natur und all die Herausforderungen geben mir das Gefühl, richtig lebendig zu sein.»
Weitere Informationen zum Projekt Child Aid Papua sind hier zu finden.
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