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Ausgewandert nach Indien
«Habe ich die Wahl, nehme ich den schwierigeren Weg»

Sujatha Henry beim Besuch eines Bio-Bauernhofs im ruhigen Umland der Metropole Bangalore.
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Plötzlich schwenkt der Linienbus zur Seite und rumpelt auf einen staubigen Rastplatz. Die eng zusammengepferchten Passagiere halten sich an den von der Decke baumelnden Gurten fest. Ein ungeplanter Zwischenhalt. Autos und Lastwagen sausen auf der Landstrasse vorbei.

Der Busfahrer hat Hunger; also geht er erst einmal gemütlich an den Essensständen frühstücken.

Das ist Indien.

In diesem grossen Land funktioniert vieles anders als bei uns. Wie könnte man den Subkontinent am besten beschreiben? Sujatha Henry sagt es so: «Indien hat von allem zu viel.» Zu viel Lärm, zu viel Schmutz und zu viele Menschen. Aber es wäre zu einfach, es dabei bewenden zu lassen. Indien muss man erlebt haben, um zu verstehen, was im bevölkerungsreichsten Land der Erde vor sich geht.

Die Stadt Doddaballapur ist, je nach Sichtweise, lebendig – oder eben chaotisch.

Sujatha ist 44-jährig und lebt alleine in einer Wohnung ausserhalb von Doddaballapur, einer Stadt mit 400’000 Einwohnern an den Ausläufern von Bangalore, der Hauptstadt des Bundesstaats Karnataka.

Mit 44 alleinstehend? Als Frau? Schon das lässt viele Einheimische die Stirn runzeln.

Sujatha ist gross gewachsen, schlank, hat einen dunklen Hautton. Sie trägt ihr Haar nur schulterlang und kaum Schmuck. «Für traditionell indische Verhältnisse bin ich alles andere als hübsch», sagt sie neben dem wartenden Bus und lacht derart laut, dass es ansteckend ist. «Aber das ist mir egal.»

Als Achtjährige will sie nur noch weg

An diesem sonnigen Frühlingssonntag will Sujatha aus der hektischen Stadt raus und eine Farm auf dem Land besuchen. Die Familie dort lebt praktisch selbstversorgend, betreibt Biolandwirtschaft und bewirtet Gäste, die es übers Wochenende nach Natur dürstet.

Es ist eine Oase in einem Land, das unter der Last der Zivilisation ächzt. Smog, Abfallberge, verschmutzte Seen und Flüsse, ein sinkender Grundwasserspiegel – Indien sieht sich mit grossen Problemen konfrontiert.

Sujatha meditiert regelmässig darüber, wo sie im Leben steht und welchen Weg sie einschlagen will. Für ihre Zukunft wünscht sie sich, mehr Zeit in der Natur zu verbringen. Deshalb belegt sie nun einen Kurs in Permakultur. Bis in fünf Jahren möchte sie einen Lebenswandel vollziehen. Erfahrung auf dem Gebiet hat sie zwar keine, aber sie ist geübt darin, ihre Komfortzone zu verlassen. «Habe ich die Wahl zwischen zwei Pfaden, wähle ich den schwierigeren», sagt sie über sich.

Wie lassen sich ärmere Frauen beim Tabuthema Menstruation beraten? Das ist eines der Projekte der ausgewanderten Neuenburgerin.

Schon in jungen Jahren gestaltet sich ihr Lebensweg nicht einfach: Als achtmonatiges Adoptivkind kommt sie in ein Dorf im Jura. Die Eltern haben einen fünf Jahre älteren Sohn, ein zweites Kind war ihnen nicht vergönnt. Also adoptieren sie Sujatha und geben ihr den Namen Ariane. Fünf Jahre später wird die Mutter doch noch schwanger und bringt eine Tochter zur Welt.

Hofangestellte graben die hellbraune Erde auf, um sie für die Aussaat vorzubereiten. Im Schatten eines überdachten Vorplatzes lauscht Sujatha den Vögeln auf den Bäumen. Sie wirkt nachdenklich. «Meine Schulzeit war der Horror», erzählt sie. Stets ist sie anders als die anderen. Wegen ihrer Hautfarbe müsse sie besser sein als die übrigen Kinder, ermahnt sie ihre Adoptivmutter. Studieren komme für sie ohnehin nicht infrage, höchstens eine Lehre.

Sujatha gehorcht, schliesslich vertraut sie darauf, dass ihre Eltern das Beste für sie wollen.

«Meine Adoptivfamilie hat sich nie für meine Vergangenheit interessiert.»

Sujatha Henry

Doch schon als Achtjährige will sie nur noch von zu Hause weg. «Meine Adoptivfamilie hat sich nie für meine Vergangenheit interessiert.»

Sujatha rechnet aus, wie viele Joghurts sie einsparen muss, bis sie es sich leisten kann, fortzuziehen. Als sie älter wird, realisiert sie, dass der Joghurt-Plan keine Option ist. Also sucht sie nach der Schulzeit die Lehre mit der kürzesten Zeitspanne. Nur jene als Zahnarztgehilfin dauert zwei Jahre, alle anderen drei. Also wählt sie eine Zahnarztpraxis im Jura aus. Doch die Arbeit gefällt ihr nicht und sie bricht ab.

Singlefrauen haben es schwer

Samstagmorgen, zurück auf den engen Strassen von Doddaballapur. Hupende Motorräder brausen vorbei, ein voll beladener Bus versucht zu kreuzen, ein Hund quert von rechts die Strasse, eine Kuh von links.

Mit einer Rikscha gelangt Sujatha zum Büro von Gass, einer NGO, bei der sie Projektberatung, Fundraising und Kommunikation betreut. Ausserdem führt sie Yoga-Therapien für beeinträchtigte Menschen durch und leitet ein Programm für Menstruationsgesundheit. Gerade in ärmeren Schichten ist das Thema ein Tabu, was zahlreiche Probleme mit sich bringt.

Die 44-Jährige während einer Yogalektion, die sie im Haus von beeinträchtigten Menschen durchführt.

Seit 2019 lebt Sujatha im Süden Indiens und heute in einer Siedlung, die mit 14’000 Bewohnern so gross ist wie eine Schweizer Kleinstadt. Zuvor mietete sie eine Wohnung in der Nähe ihres Arbeitsortes. Doch im Viertel, in dem viele arme Menschen leben, fiel sie als alleinstehende Frau zu sehr auf.

An diesem Vormittag besucht die Schweizerin mit einer Sozialarbeiterin und Physiotherapeutin drei BPL-Familien. Die Abkürzung hört man hier oft, sie steht für Below Poverty Line, also unterhalb der Armutsgrenze. Gass arbeitet mit geistig und körperlich eingeschränkten Menschen, besucht diese vor Ort für Yoga- oder Physiobehandlungen, stattet sie mit Beschäftigungsmaterialien aus, wie etwa Stoff und Fäden fürs Sticken.

Am Standort selbst unterhält die Organisation Tageswerkstätten und Schlafplätze für Frauen und Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind oder an psychosozialen Problemen leiden. Sie sollen dort so unabhängig wie möglich leben können.

«Ich bin nicht wegen der Schönheit dieser Stadt hier.»

Sujatha Henry

Auf den Brachen türmt sich Unrat, Kühe wühlen darin herum. Aus den Abflussrinnen auf beiden Seiten der Strässchen steigt beissender Gestank. Sujatha dreht sich um und sagt: «Ich bin nicht wegen der Schönheit Doddaballapurs hier.» Die Situation macht ihr zu schaffen, besonders weil viele Einheimische ihren Müll achtlos wegwerfen.

Sie kann nicht sesshaft werden

Mit 18 verlässt Sujatha ihre Familie und legt den Namen Ariane ab. Sie zieht nach Basel und arbeitet als Au-pair-Mädchen. Danach absolviert sie eine Lehre als Bibliothekarin in Tramelan und Delémont.

Als sie die Prüfungen an der Berufsschule hinter sich bringt, wird ihr eine Stelle als Bibliothekarin in La Chaux-de-Fonds angeboten. Sie nimmt sie unter der Bedingung an, dass sie zuerst in Indien auf Reisen gehen darf.

Frauen und Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind, finden in einer Tageswerkstätte sichere Strukturen.

2002 reist sie erstmals allein ins Land ihrer Wurzeln. Mitten in der Nacht kommt sie am Flughafen ihrer Heimatstadt Chennai an. Ohne Sprachkenntnisse und nur mit einem kleinen Französisch-Englisch-Wörterbuch ausgestattet, stürzt sie sich ins Abenteuer.

Sie besucht das Waisenhaus, in dem sie die ersten Monate ihres Lebens verbracht hat, reist zweieinhalb Monate durchs Land. Doch Sujatha merkt schon vor dem Heimflug: Das reicht ihr noch nicht.

Zurück im Kanton Neuenburg, geht es für sie aber aufwärts: «Ich begann, mein Leben zu geniessen.» La Chaux-de-Fonds gefällt ihr, sie fühlt sich frei, sie kann die Wanderschuhe schnüren und in 15 Minuten in den Bergen sein. Sie hat Freunde und widmet ihre Freizeit dem Yoga. Mit der lokalen Yoga-Community bleibt sie bis heute in Kontakt.

Indien ist kompliziert. Das Land steht vor zahllosen Problemen – und gleichzeitig ist es voller Farben.

Zwei Jahre später tut Sujatha das, was sie fortan immer wieder tun wird: Sie kündigt ihren Job sowie den Mietvertrag und verabschiedet sich für anderthalb Jahre nach Indien.

Mittagspause in einem Bürozimmer von Gass. Das Essen aus der Küche wartet auf dem Arbeitstisch, verpackt in Metallschüsseln, die zu einem kleinen Turm gestapelt sind. Darin sind Reis, Bohnensalat, Kartoffel-Gemüse-Eintopf und Naan-Brot. Gegessen wird, wie das in Indien üblich ist, ohne Besteck und mit der rechten, «reinen» Hand. Die Speisen werden auf einem Teller gemischt und zu kleinen Bällchen geformt, um sie in handlichen Portionen in den Mund zu schieben.

Sujatha hält kurz inne, knetet nachdenklich an ihrem Reisbällchen und sagt: «Ich habe ein Problem damit, Wurzeln zu schlagen – und mit Routine.» Wieder lacht sie laut heraus. «Für mich ist offensichtlich, dass das mit meiner Adoptionsgeschichte zu tun hat.»

In den Jahren nach dem ersten längeren Indienaufenthalt reist die junge Frau zwischen der Schweiz und ihrem Herkunftsland hin und her, ohne sesshaft zu werden. Hingezogen fühlt sie sich nach La Chaux-de-Fonds, wohin sie immer wieder heimkehrt. Letztmals 2021, als aus drei Monaten in der Schweiz plötzlich zehn werden.

Ihrem ursprünglichen Beruf bleibt sie all die Jahre treu: Sie arbeitet mal als Bibliothekarin, mal als Mediathekarin, Teilzeit auch an den Universitäten von Neuenburg und Lausanne. Daneben ist sie als Yoga-Therapeutin und Stimmbildnerin tätig.

Jeden Winter geht sie zu Hause in der Schweiz ihre Habseligkeiten durch, schaut, was sie brauchen und was sie weggeben kann. «Ich kann mit zu viel Materiellem nicht umgehen.» Sie bevorzugt es, rasch umziehen zu können, sollte sie den Drang verspüren.

In Lausanne absolviert Sujatha ein vierjähriges Yoga-Lehrprogramm und in Brüssel eine dreijährige Schule in Yoga-Therapie.

Sie ist von Ayurveda fasziniert, einem indischen Gesundheitssystem, das Körper, Geist und Seele als Einheit betrachtet. Ayurveda ist Teil der «Veden», einer umfassenden Lehre, in der Mensch, Natur und Kosmos im Einklang sind.

Ayurveda vereint körperliche, psychische, mentale und spirituelle Aspekte. Yoga steht dabei für die Ausübung dieses Wissens, das über Jahrhunderte durch das Rezitieren von Mantras mündlich überliefert wird.

Sujatha kommt früh mit Gelehrten in Kontakt und folgt in Chennai 20 Jahre dieser Tradition, ehe sie ihre Ausbildung vollendet: als Lehrerin für vedische Gesänge. Noch schreibt sie an ihrer Abschlussarbeit in Yogatherapie für geistig benachteiligte Menschen.

Sie sucht nicht nach ihren Wurzeln

Nebst dem Einsatz vor Ort in Doddaballapur begibt sich die Organisation Gass auch auf Ausseneinsätze. Ein Team aus Ärzten, Krankenpflegerinnen und Sozialarbeitern fährt fast täglich mit einem Ambulanzwagen in 30 Dörfer im Umkreis der Stadt. Sie versorgen die Bevölkerung mit Desinfektionsmittel oder Schmerztabletten. Sie messen den Blutdruck, nehmen Proben und sich Zeit, den Sorgen der alten Frauen und Männer zuzuhören.

Ob Desinfektions- oder Schmerzmittel: Auf dem Land mangelt es der Bevölkerung an vielem.

Sujatha fährt dieses Mal im Ambulanzwagen mit, um fürs Fundraising eine Dokumentation über diese Einsätze zu schreiben. Und was ist mit ihrer eigenen Geschichte, betreibt sie da auch Recherchen? «Nein. Ich weiss bis heute nicht, wer meine leiblichen Eltern sind. Und das ist für mich in Ordnung. Durch die Meditation spüre ich, dass sie bei mir sind.»

Die Neuenburgerin fühlt sich auf dem Subkontinent, auf dem alle Probleme dieser Welt zu finden sind, am richtigen Ort. «Ich muss hier sein, um zu fühlen, um zu verstehen, was los ist.»

«In Indien verläuft die Zeit zyklisch – ohne Anfang und Ende.»

Sujatha Henry

Zuweilen stösst Sujatha aber an ihr Limit, etwa wenn Leute sie belügen. Es sei ein täglicher Lernprozess, auch kommunikativ, denn sie spricht die Lokalsprache Kannada nicht. Bisher hat sie keinen Lehrer gefunden, obwohl die Arbeitskollegen seit drei Jahren versprechen, sie zu unterrichten. Sowieso dauern viele Prozesse endlos: Auf ihre Bankkarte wartete Sujatha zwei Jahre.

Sie sagt: «Das westliche Konzept von Zeit ist linear, mit Anfang und Ende, wo alle ihren Deadlines hinterherrennen. In Indien aber verläuft die Zeit zyklisch.» Will heissen: Wenn eine Arbeit heute nicht erledigt wird, dann vielleicht morgen, in einer Woche, in einem Monat – oder im nächsten Leben.

Der volle Bus stoppt am Strassenrand, weil der Chauffeur frühstücken möchte. Sujatha findet aber eine andere Weiterfahrgelegenheit.

Bereits als Achtjährige hat Sujatha gelernt, geduldig zu sein. Diese Eigenschaft kommt ihr nun entgegen. «Wenn du glaubst, ein geduldiger Mensch zu sein, komm nach Indien und arbeite an deiner Geduld», sagt Sujatha und lacht.

Es brauche Zeit, sich auf dieses Land einzulassen. Denn die Tage entwickeln sich oft anders als gedacht. Wochenpläne, Termine und Zeitbudgets bringen wenig. Ob etwas 12, 14 oder 16 Uhr stattfindet – was spielt das letztlich für eine Rolle? Sujatha hat festgestellt, dass, egal wie verzwickt die Lage zuweilen erscheint, am Ende die Dinge erstaunlicherweise so hinfallen, dass doch alles aufgeht.

Als der Busfahrer sein Vehikel parkiert und uns wegen seines Frühstücks warten lässt, klingelt Sujathas Mobiltelefon. Am anderen Ende ist jemand von der Biofarm, die wir besuchen wollen. Der Mann wartet mit seinem Auto nur wenige Meter entfernt am Strassenrand. Nun werden wir sogar noch früher am Ziel sein als geplant.

Auch das ist Indien.