Gefängnis auf wegen CoronaAsylsuchende in der Schweiz tauchen ab
Wegen der Corona-Krise räumen Kantone ihre Ausschaffungsgefängnisse. Was das für die abgewiesenen Flüchtlinge bedeutet.
«Bleiben Sie zu Hause! Waschen Sie sich regelmässig die Hände!» Der Bundesrat bereitete die Schweiz gerade auf den Lockdown vor und riet zu eisener Selbstisolierung, da öffnete der Kanton Genf die Türen seines Ausschaffungsgefängnisses Favra.
Rund 20 abgewiesene Asylsuchende standen unverhofft auf der Strasse. Ihre wenigen Habseligkeiten in den Händen, mussten sie sich nach einer neuen Bleibe umsehen. Dabei blieb es nicht.
Genf schloss auch Frambois, sein zweites Ausschaffungsgefängnis beim Flughafen, wo auch die Kantone Waadt und Neuenburg abgewiesene Asylsuchende platzieren. Von den Vorkommnissen in Favra aufgeschreckt, eilte die kirchliche Seelsorgerin Véronique Egger zum Gefängnis. Dort traf sie einen Mann, der bei seinen Verwandten abtauchen wollte, aber komplett orientierungslos war und kaum Geld besass. Abgesehen von einem Empfangszentrum hatte er von der Schweiz noch nichts gesehen. Véronique Egger brachte ihn zum Bahnhof, kaufte ihm ein Billett und setzte ihn in den richtigen Zug.
Wenige Tage später kontaktierte der Mann die Seelsorgerin wieder. Er habe das Coronavirus, teilte er mit. Es stellte sich heraus, dass in Frambois zwei Häftlinge und ein halbes Dutzend Mitarbeiter an Corona erkrankt waren. Einzelne Mitarbeiter mussten gar ins Spital. Sicherheitsdirektor Mauro Poggia begründete die temporäre Schliessung der Administrativgefängnisse damit, dass die abgewiesenen Asylsuchenden nicht innert nützlicher Frist in ihr Herkunftsland zurückgebracht werden könnten. Doch hat der Staat nicht auch im Krisenfall eine Fürsorgepflicht?
In der Freiheit orientierungslos
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) will zur Situation in Genf nicht Stellung nehmen. Ausschaffungsgefängnisse seien eine Angelegenheit der Kantone, so das SEM. Mauro Poggia bestreitet, fahrlässig gehandelt und die Häftlinge sich selbst überlassen zu haben. Angestellte des kantonalen Büros für Strafvollzug hätten die Freigelassenen an Aufnahmeeinrichtungen für Sans-Papiers verwiesen. Sie seien beraten worden, insbesondere was Behandlungsmöglichkeiten an den Universitätsspitälern anbelangt. «Niemand wurde ohne Aussicht oder Möglichkeit auf medizinische Versorgung auf die Strasse gestellt», beteuert Poggia. Véronique Egger sieht das anders. Die allerwenigsten hätten eine Ahnung gehabt, wo sie Hilfe bekommen, sagt sie.
Diverse andere Kantone haben wegen des Lockdown Asylsuchende in Administrativhaft entlassen. In Basel ergriff Menschenrechtsaktivistin Anni Lanz die Initiative. Sie marschierte ins Gefängnis Bässlergut und sagte: «Jetzt leeren wir das Gefängnis.» In den Folgetagen kamen zu Lanz’ Freude tatsächlich Personen frei. «Das Bässlergut hat entlassene Administrativhäftlinge noch nie darüber informiert, wo sie Nothilfe bekommen. Das hat sich in Corona-Zeiten nicht geändert», sagt Anni Lanz. In den letzten Tagen hätten sich Freigelassene wiederholt bei ihr gemeldet, um Nothilfestellen zu finden, so die 75-Jährige.
Auch der Kanton Bern entliess Personen aus der Administrativhaft, verzichtete aber auf eine flächendeckende Haftentlassung. «Jeder Fall wird einzeln und differenziert geprüft», sagte Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) der «Berner Zeitung». Personen, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gefährden, sollten nicht wegen vorübergehender Vollzugsschwierigkeiten auf freien Fuss gesetzt werden.
Ein Katz-und-Maus-Spiel
Anders als in anderen Kantonen ist das Ausschaffungsgefängnis beim Zürcher Flughafen noch immer gut gefüllt. Gemäss Angaben der kantonalen Justizdirektion sassen letzten Freitag 47 Personen in Administrativhaft. Seit Ausbruch der Corona-Krise stellten Asylanwälte zahlreiche Haftentlassungsgesuche – teils mit Erfolg. Der Kanton Zürich lässt freigelassenen Asylsuchenden ein Informationsblatt in die Hände drücken, mit dem sie sich zunächst beim Migrations- und später Sozialamt melden sollten, um einen Platz in einer Notunterkunft, neu auch «Rückkehrzentrum» genannt, zu bekommen. Doch auch hier gab es in den letzten Wochen Probleme. Asylorganisationen klagten, dass die Unterkünfte die Corona-Schutzmassnahmen des Bundesamts für Gesundheit nicht einhalten können.
«Sobald die Ausschaffung wieder absehbar ist, werden abgewiesene Asylsuchende wieder inhaftiert.»
Sicher ist: Wer von der Nothilfe lebt, wird nach der Corona-Krise von den Behörden wieder aufgegriffen und wieder in einem Ausschaffungsgefängnis landen. Von selbst werden abgewiesene Asylsuchende kaum dahin zurückkehren. Die Alternative ist ein Leben in der Klandestinität. Doch die meisten Kantone haben keine Kenntnisse, geschweige denn eine Übersicht darüber, wie viele Ausschaffungshäftlinge untergetaucht sind. Der Kanton Freiburg bildet eine Ausnahme. Man habe fünf Personen freigelassen, drei Personen seien in einem Heim für abgelehnte Asylsuchende untergebracht, zwei seien verschwunden, teilt Didier Page, stellvertretender Generalsekretär der Freiburger Justizdirektion, mit.
Die Zürcher Rechtsanwältin Lea Hungerbühler, die auch Asylsuchende betreut, sagt: «Sobald die Ausschaffung wieder absehbar ist, ist durchaus davon auszugehen, dass zahlreiche Personen, die jetzt aufgrund von Corona aus der Haft entlassen werden oder bereits in Freiheit sind, wieder inhaftiert werden.» Dieses «Katz-und-Maus-Spiel» sei aber nicht spezifisch für die Corona-Situation, sondern sei immer so für alle Menschen, die ohne gültige Erlaubnis in der Schweiz leben.
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