Interview zur Asylsituation in Zürich«Derart akut war es noch nie» – braucht es Armeezelte für Flüchtlinge?
Ab Sommer müssen die Zürcher Gemeinden mehr Flüchtlinge aufnehmen. Der oberste Gemeindepräsident Jörg Kündig erläutert, wo die Probleme liegen und was die letzte Notlösung wäre.
Der Kanton Zürich hat die Aufnahmequote für Asyl- und Schutzsuchende erneut erhöht. Ab Juli müssen alle Gemeinden in der Lage sein, 16 Flüchtlinge pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner (1,6 Prozent) aufzunehmen anstatt wie bisher 13. Bis Juni 2023 lag die Quote noch bei 9 Personen (0,9 Prozent).
Für Kleinstädte mit 20’000 Einwohnern bedeutet dies, innert eines Jahres 140 zusätzliche Plätze anzubieten. Jörg Kündig, Gossauer FDP-Gemeindeoberhaupt und Präsident der Zürcher Gemeindepräsidien, erläutert die Situation in den Kommunen.
Wie schaffen es die Gemeinden, die neue Quote zu erfüllen?
Die Gemeinden waren bereits mit der Quote von 1,3 Prozent am Anschlag. Jetzt wird die Belastungsgrenze noch weiter strapaziert. Es ist wirklich eine sehr schwierige Situation. Es gilt ja nicht nur, Wohnraum für diese Menschen zu finden.
Sondern?
Diese Menschen müssen betreut, die Kinder und Jugendlichen eingeschult werden. Das ist enorm fordernd.
Zurück zur Unterbringung. Welche Optionen gibt es?
Es ist nicht so, dass am 1. Juli die Quote von 1,6 Prozent erreicht ist und die Leute dastehen. Diese Erfüllungsquote wird nach und nach, je nach Zuweisung des Bundes, erreicht werden. Jede Gemeinde hat zudem eine andere Ausgangslage. Einzelne haben noch eigenen Wohnraum, aber viele müssen dazumieten. Das ist im ausgetrockneten Wohnungsmarkt schwierig, aber nicht unmöglich, wie Beispiele in Wetzikon oder Wald zeigen. In Uster wurde ein ehemaliges Altersheim für die Unterbringung von Asylsuchenden genutzt. Oft sind solche Lösungen allerdings nur temporär möglich.
Und wenn das nicht klappt?
Einzelne Gemeinden haben bereits Container aufgestellt. Diese Lösung wird es wohl vermehrt geben müssen. Allerdings haben nicht alle geeignete Grundstücke zur Verfügung, auf denen dies möglich ist. Beschaffungsfristen, Baubewilligungsverfahren und auch die Entscheidverfahren zur Gutsprache der nötigen finanziellen Mittel sind zusätzlich zu beachtende Faktoren.
Das ist kurzfristig schwierig.
Genau. Deshalb muss man weitere Optionen ins Auge fassen, etwa unterirdische Zivilschutzanlagen oder sogar Sanitätszelte der Armee.
Familien mittelfristig in Zelten unterbringen?
Diese Zelte haben eine hohe Qualität, es gibt auch grosse Ausführungen. Eine Bereitstellung könnte über den Bund initiiert werden. Aber klar: Zelte kommen zuletzt in der Kaskade der möglichen Lösungen.
Dass die Zahl von Flüchtlingen zunimmt, war ja eigentlich bekannt oder zumindest erwartbar. Wäre es nicht besser, wenn die Gemeinden vorausschauend Kapazitäten schaffen?
Allein die Bewältigung der Quote von 1,3 Prozent war und ist schon sehr fordernd. Verschiedene Projekte sind jetzt zudem in der Vorbereitungsphase. Ausserdem hat der Ukraine-Krieg die Lage grundsätzlich geändert. Früher wurden Personen mit Bleibeentscheid den Gemeinden zugeteilt. Jetzt haben wir neben den rund 4500 Flüchtlingen aus anderen Ländern zusätzliche 12’500 Ukrainerinnen und Ukrainer hier. Und diese haben Schutzstatus S, der bis Frühling 2025 verlängert wurde. Sie können also arbeiten, werden immer mehr integriert, aber eigentlich haben sie Rückkehrstatus. Fast 90 Prozent der Flüchtlinge aus der Ukraine sind in der Obhut der Gemeinden, aber es ist völlig unklar, wie es mit ihnen weitergeht. Der Status S ist für uns ein Riesenproblem. Hier muss endlich Klarheit geschaffen werden.
Kommen immer noch Menschen aus der Ukraine dazu?
Wir gehen davon aus, dass jene Menschen, die im laufenden Jahr dazukommen, aus anderen Ländern stammen. Aber diese verschärfen die Situation in den Gemeinden, da unsere Strukturen bereits belegt beziehungsweise vollständig ausgelastet sind.
Können Sie sich erinnern, dass die Gemeinden derart viel Wohnraum für Flüchtlinge zur Verfügung stellen mussten?
Es gab bereits verschiedene Flüchtlingskrisen. Aber derart akut und fordernd wie jetzt aufgrund des Ukraine-Kriegs und anderer weltweiter Krisenherde war es noch nie – und eine Entspannung ist nicht in Sicht.
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