Konflikt um Berg-KarabachAserbaidschan provoziert humanitäre Notlage
Rund 120’000 Menschen in der Kaukasusregion leiden unter einer aserbaidschanischen Strassenblockade. Armenien befürchtet das Schlimmste und wendet sich an den UNO-Sicherheitsrat.
Der Latschin-Korridor ist die einzige Strasse, die Armenien und Berg-Karabach verbindet. Seit Ende 2022 wird die Strasse durch Aserbaidschan kontrolliert, seit Anfang Juli ist sie sogar geschlossen. Die Strassenblockade hat inzwischen in Berg-Karabach zu einem «schweren Mangel» an Lebensmitteln, Medikamenten, Gas und Treibstoff geführt, wie der UNO-Botschafter Armeniens, Mher Margarjan, in einem Schreiben an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen berichtet. Die Bevölkerung von Berg-Karabach stehe «am Rande einer echten humanitären Katastrophe», heisst es in dem Schreiben.
Gemäss Darstellung der armenischen Seite hat die prekäre Versorgungslage in der hauptsächlich von ethnischen Armeniern bewohnten Kaukasusregion bereits zu «erhöhter Sterblichkeit» etwa bei Diabetikern und an Herz- und Kreislaufkrankheiten leidenden Menschen geführt. Aserbaidschan schaffe «vorsätzlich» für die Bevölkerung der Enklave «unerträgliche Zustände», um die Bewohner zur Auswanderung zu zwingen. Der UNO-Sicherheitsrat müsse als «wichtigstes Gremium zum Schutz der internationalen Sicherheit» eingreifen.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
In den sozialen Medien kursieren seit Wochen Berichte über die Notlage in Berg-Karabach. Videos und Bilder zeigen Menschenschlangen vor Bäckereien und anderen Geschäften, geschlossene Läden oder Supermärkte mit leeren Regalen. «Keine Nahrung, kein Wasser, kein Strom, kein Benzin, kein Gas, keine Medikamente», heisst es im Tweet einer Aktivistin. Selbst Hilfslieferungen des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) sollen seit mehreren Wochen nicht mehr möglich sein. Es häufen sich die Hilferufe aus Berg-Karabach.
Armenien und Aserbaidschan streiten seit dem Ende der Sowjetunion vor 32 Jahren um Berg-Karabach. Diese Region im Südkaukasus ist armenisch besiedelt, gehört aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan und ist von aserbaidschanischem Staatsgebiet umgeben. Berg-Karabach, das sich seit 2017 Republik Arzach nennt, hatte sich 1991 unabhängig erklärt. Dieser Status ist international allerdings nicht anerkannt worden.
Armenien und Aserbaidschan haben bisher zwei Kriege um Berg-Karabach geführt. Die Kämpfe forderten Zehntausende Tote und vertrieben Hunderttausende Menschen. 1992 bis 1994 erlangte Armenien die Kontrolle über Berg-Karabach und benachbarte Gebiete. Beim letzten Krieg vor drei Jahren gewann das militärisch inzwischen hochgerüstete Aserbaidschan: Es eroberte grosse Teile der umkämpften Kaukasusregion zurück und schnitt Berg-Karabach von Armenien ab. Ende 2020 vermittelte Russland einen Waffenstillstand zwischen den Regierungen in Baku und Jerewan. Trotzdem kam es immer wieder zu Zwischenfällen an den Grenzen und zu teils schweren Kämpfen, wie etwa im September 2022.
Gemäss dem Waffenstillstandsabkommen von 2020 wären russische Truppen für die Überwachung des Latschin-Korridors verantwortlich. Mit eben diesem Abkommen rechtfertigt Aserbaidschan die Einrichtung eines Armeecheckpoints bei der einzigen Strasse zwischen Armenien und Berg-Karabach. Demzufolge sei Aserbaidschan für die Sicherheit von Personen, Fahrzeugen und Gütern zuständig. Der Latschin-Korridor war zunächst von aserbaidschanischen Demonstranten blockiert worden, die sich als Umweltschützer ausgaben. Anfang dieses Jahres richtete Aserbaidschan unter Verweis auf Sicherheitsgründe eine Strassensperre ein.
«Der Hunger ist die unsichtbare Waffe des Völkermordes.»
Die Latschin-Blockade nutzt die Regierung in Baku offensichtlich als Hebel im Konflikt mit Armenien. Die Leidtragenden sind die rund 120’000 Bewohnerinnen und Bewohner von Berg-Karabach, darunter rund 30’000 Kinder, denen eine humanitäre Katastrophe droht.
Im Zuge der jüngsten Eskalation im Konflikt um Berg-Karabach richtet Armenien harte Vorwürfe an Aserbaidschan. Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan hat Baku vorgeworfen, eine «Politik der ethnischen Säuberung» zu betreiben. Die Rede war auch von Völkermord.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Ähnlich sieht es Luis Moreno Ocampo, ein ehemaliger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs. In einem letzte Woche veröffentlichten Bericht warnte er, Aserbaidschan bereite einen Völkermord an ethnischen Armeniern in Berg-Karabach vor. «Der Hunger ist die unsichtbare Waffe des Völkermordes.» Ocampo forderte den UNO-Sicherheitsrat auf, die Angelegenheit vor den Strafgerichtshof zu bringen. Ebenso forderte eine Expertengruppe der UNO eine Aufhebung der aserbaidschanischen Blockade.
Noch vor ein paar Monaten hatte es Hoffnung auf eine Beilegung des Dauerkonflikts um Berg-Karabach gegeben. Der armenische Premier Paschinjan und der aserbaidschanische Staatschef Ilham Alijew hatten sich auffallend oft zu Gesprächen getroffen, etwa in Washington, Brüssel und Moskau. Und nachdem Paschinjan erklärt hatte, er wäre unter Bedingungen bereit, das von Armeniern bewohnte Gebiet Berg-Karabach als Teil Aserbaidschans anzuerkennen, dachte Alijew laut über «die Möglichkeit eines Friedensabkommens» nach.
Dabei spielen auch andere Mächte eine wichtige Rolle: die Türkei als Verbündeter von Aserbaidschan, Russland als Schutzmacht Armeniens, auch wenn es nicht mehr so verlässlich auf der Seite Jerewans steht. Ausserdem treten die USA und die EU als Vermittler auf und versuchen, Einfluss auf den Konflikt zu nehmen.
Armenien: Neuer Krieg «sehr wahrscheinlich»
Für die Anerkennung von Berg-Karabach als aserbaidschanisches Staatsgebiet fordert Armenien internationale Mechanismen, mit denen der rechtliche Schutz und die Sicherheit der armenischen Bewohnerinnen und Bewohner der Enklave sichergestellt werden können. Aserbaidschan hingegen ist der Ansicht, dass solche Garantien auf nationaler Ebene gewährt werden müssen, und weist ein internationales Format zurück. In Baku gibt es keine Kompromissbereitschaft, etwa internationale Beobachter oder Friedenstruppen nach Berg-Karabach zu lassen, die die Sicherheitsgarantien durchsetzen könnten.
Armeniens Ministerpräsident Paschinjan und Aserbaidschans Präsident Alijew, die seit Jahren erbitterte Feinde sind, haben sich zuletzt Mitte Juli unter EU-Vermittlung zu sogenannten Friedensgesprächen in Brüssel getroffen. Wenige Tage nach den ergebnislosen Gesprächen äusserte sich der armenische Premier pessimistisch über den weiteren Verlauf der Streitigkeiten mit Aserbaidschan. «Solange ein Friedensvertrag nicht unterzeichnet und von den Parlamenten beider Länder ratifiziert worden ist», sagte Paschinjan in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP, «ist ein neuer Krieg sehr wahrscheinlich.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.