Reportage zu Berg-KarabachDer Krieg ist aus, doch der Hass ist grösser denn je
Nach mehr als sechs Wochen schwerer Gefechte haben sich Armenien und Aserbeidschan auf ein Ende der Kämpfe verständigt. Der jüngste Feldzug zieht eine Spur der Zerstörung durch das Leben der Menschen.
Während Elchin Ismailow an der vordersten Front sein Leben aufs Spiel setzte, brach in seiner aserbeidschanischen Heimatstadt Berde der andere Teil seiner Welt zusammen. Das geschah mitten am Tag und es geschah in Sekundenbruchteilen. Als der mit Streumunition geladene Sprengsatz im Zentrum von Berde explodierte, müssen Elchin Ismailows Ehefrau Tukezban und ihr Vater irgendwo am Kreisel nahe dem Laden eines Elektrikers und dem Komfort-Möbel-Shop gewesen sein.
Smertsch-Raketen sind für den Einsatz gegen Panzer gedacht, oder sie werden mit Streumunition gegen Infanteristen verschossen. Die Waffe, deren russischer Name für Tornado steht, ist dann eine fliegende Schrotflinte. Beim Aufprall zischen kleine Behälter durch die Luft, aus denen es Metallteile hagelt. Wegen der verheerenden Wirkung für Zivilisten ist Streumunition international geächtet. Aber das schert keinen, beide Seiten setzen diese Waffen ein.
Die Tochter hat noch keinen Namen
Nach dem Einschlag der Smertsch-Raketen hängt Schmauch- und Brandgeruch über dem Stadtzentrum von Berde, überall zersplitterte Schaufenster, zerstörte Geschäfte. An den Strassenrändern liegen mit Tüchern abgedeckte Leichen. Eine der Toten ist Ismailows Frau Tukezban. Sie liegt zusammen mit dem Vater unter einem schmutzigen Tuch. Sie wurde nur 25 Jahre alt. Blut sickert unter dem Stoff hervor. Die beiden waren wohl sofort tot.
Ein paar Tage später steht Elchin Ismailow in seinem wenige Kilometer von der Stadt entfernten Dorf. Die Armee hat ihn für zehn Tage beurlaubt: Ismailow ist mit 31 Jahren Witwer geworden. Er ist der Vater eines knapp vier Wochen alten Babys, dessen Geburt er nicht miterlebt hat, weil er da an der Front kämpfte. Als Kriegsfreiwilliger. Auf der Schotterstrasse vor dem Haus halten in die Jahre gekommene E-Klasse-Mercedes, Ladas, Wolgas.
Die Trauergäste strömen durch das Gartentor. Ismailow schüttelt Hände, wird umarmt, ein schmächtiger, unrasierter Mann mit leerem Blick. Seine Frau hatte nach fünf Jahren Ehe endlich ihr erstes Kind bekommen. Ein Mädchen, es hat noch nicht einmal einen offiziellen Namen. «Wenn der Krieg vorbei ist», sagt Elchin Ismailow, «möchte ich für meine Tochter da sein. Ich möchte sie selbst erziehen.»
Aserbeidschans Nationalfahne leuchtet in glänzendem Blau, tiefem Rot, schillerndem Grün. Dazu in der Mitte der weisse Halbmond mit Stern. Die letzten Wochen war diese Flagge das Banner für den Krieg. Die Aserbeidschaner scheinen in einen blau-rot-grünen Rausch verfallen zu sein. Überall hängen jetzt Fahnen, Plakate, Parolen: «Karabach gehört uns, Karabach ist Aserbeidschan.»
Blau-rot-grüne Bänder, Poster, Aufkleber begrüssen einen am Flughafen von Baku, kleben in den Heckscheiben der Autos, hängen am Gestänge von Bussen, erwarten einen am Hoteleingang. «Der Sieg ist unser», steht auf den Schildern am Strassenrand oder: «Die Märtyrer sterben nie – sie leben ewig». Das Land ist geflaggt und geschmückt. Selbst die Corona-Masken, die hier kaum ein Mensch trägt, lassen wissen: «Karabach gehört Aserbeidschan.»
Beim Waffenstillstand 1994 wurden mehr als 600’000 Aserbeidschaner aus Berg-Karabach und den umliegenden Bezirken vertrieben.
Karabach ist ein kleines Hochland, das zwischen Aserbeidschan und dem Nachbarland Armenien schon seit mehr als hundert Jahren umstritten ist: Berg-Karabach – der «Gebirgige schwarze Garten». Zu Zeiten der Sowjetunion waren sowohl Aserbeidschan als auch das Nachbarland Armenien Sowjetrepubliken. Berg-Karabach gehörte zu Aserbeidschan, war dabei aber autonom.
Als die Sowjetunion Stück für Stück zerfiel, spitzte sich der Konflikt massiv zu. Der Krieg dauerte knapp drei Jahre, es kam zu Massakern auf beiden Seiten. Beim Waffenstillstand 1994 wurden mehr als 600’000 Aserbeidschaner aus Berg-Karabach und den umliegenden Bezirken im Flachland vertrieben, die Armenien annektiert hatte – fast ein Fünftel des aserbeidschanischen Staatsgebiets ging verloren. Die Rebellen riefen im Schwarzen Garten ihren Kleinstaat aus, der in Tat und Wahrheit ein Teil Armeniens wurde.
«Wir helfen uns selbst»
Seit fast 30 Jahren fordert Baku das Gebiet zurück, sinnen die Aserbeidschaner auf Rache, warten auf die Gelegenheit zur Revanche. Jahrzehntelang verhandelten die Kriegsparteien mithilfe der OSZE darüber, unter der Ägide Russlands, Frankreichs und der USA. Erfolglos.
Schliesslich erklärte Aserbeidschans Präsident Ilham Alijew diesen Sommer, sein Volk habe keine Geduld mehr mit dieser Pseudodiplomatie: «Wir helfen uns selbst. Wir schaffen neue Tatsachen. Rechnet mit uns!» Und er hat gewonnen: Gemäss dem nun geschlossenen Waffenstillstand wird Aserbeidschan die eroberten Gebiete behalten und Armenien muss weitere Territorien räumen.
Präsident Alijew regiert Aserbeidschan mit eiserner Hand, sein Regime ist so autoritär, wie seine Wahlerfolge absolut sind: 87,3 Prozent der Stimmen bekam er beim letzten Mal. Meinungsfreiheit gibt es nicht, allenfalls peripher im Netz. Widerspruch ist nicht vorgesehen in diesem Land.
Doch wenn es um Karabach geht, scheinen das die wenigsten zu wollen. Die Investigativjournalistin Khadija Ismailowa, die wegen ihrer Arbeit zwei Jahre im Gefängnis sass, gilt als so etwas wie eine regimekritische Stimme in diesem Land. Ihr Neffe ist Soldat, wochenlang hat er gekämpft, die Familie hat keine Nachricht, weiss nicht, ob er noch lebt. Aber auch Ismailowa sagt: «Das Volk will diesen Krieg, weil es das besetzte Land zurückhaben will.»
Die Wohnblocks wurden für Flüchtlinge und Vertriebene des ersten Karabach-Kriegs gebaut. Wer nicht geflohen ist, haust im Keller.
Ausländischen Journalisten werden in diesen Tagen Begleiter an die Seite gestellt, die einem nur das zeigen, was man in Aserbeidschan sehen soll. Das eigentliche Kampfgebiet ist gesperrt, zugänglich sind nur die Orte an der Grenze, in die die Armenier mit ihren weitreichenden Waffen schiessen, in denen die Smertsch- und Scud-Raketen explodieren, aserbeidschanische Zivilisten sterben. So wie auch die Aserbeidschaner verbotene Waffen einsetzen und auch auf der anderen Seite Zivilisten sterben.
Bei den Aserbeidschanern sind es nun schon um die einhundert, unter den Toten sind Frauen und Kinder. Auch in der Siedlung am Rand der Kleinstadt Terter schlugen fast täglich Raketen oder Granaten ein. Die Wohnblocks wurden für Flüchtlinge und Vertriebene des ersten Karabach-Kriegs gebaut: moderne Appartementhäuser mit Grünanlagen. Trümmer und Scherben liegen jetzt zwischen den Rasenflächen, viele Gebäude sind getroffen worden. Wer nicht geflohen ist, haust im Keller.
In einer Wohnung steht Hicran Emranowa vor einem zersplitterten Fenster, auch sie lebt im Keller, aber sie schaut täglich nach dem Rechten in ihrer Wohnung. Emranowa ist 42, sie war 15, als ihre Familie vertrieben wurde im ersten Krieg. «Ich hasse alle Armenier», sagt sie. «Sie haben schwangeren Frauen die Bajonette in den Bauch gestossen. Sie haben Menschen mit kochendem Wasser übergossen. Ich würde ihr Blut trinken.» Der Hass auf die Armenier sitzt tief. Bei der Frage, was mit den in Karabach lebenden Armeniern geschehen soll, zögert Emranowa keine Sekunde. «Es wird dort keine Armenier mehr geben», sagt sie. «Sie müssen gehen. Wer sich widersetzt, der stirbt.»
Doch nun ist der Krieg fürs Erste aus, die Führer der beiden Länder haben ein Abkommen erreicht. Und wenn es hält, kann Elchin Ismailow nach Hause kommen und sich um seine Tochter kümmern. Einen Namen für sie hat er schon: Tukezban. Es ist der Name ihrer toten Mutter.
Fehler gefunden?Jetzt melden.