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Massenproteste nach Landabgabe
In Armenien will ein Bischof den Premier stürzen

Protest leader Archbishop Bagrat Galstanyan addresses demonstrators protesting against land transfer to neighbouring Azerbaijan, in Yerevan on May 14, 2024. Armenia has agreed to hand over territory it has controlled since the 1990s and has started border delimitation efforts, in a bid to secure an elusive peace deal with Baku and avoid another bloody conflict. (Photo by KAREN MINASYAN / AFP)
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Armenien gibt nach im Dauerkonflikt mit dem mächtigeren Nachbarn Aserbaidschan. Vier Dörfer in der Grenzregion Tawusch im Nordosten Armeniens tritt das Land ab, sie gehören neu zu Aserbaidschan. Das hat nicht nur Folgen für die armenischen Bewohner von Baganis, Woskepar, Kiranz und Berkaber – sie fühlen sich von der eigenen Regierung verraten und schutzlos dem Erzfeind Aserbaidschan ausgeliefert. In der armenischen Grenzregion ist auch eine Protestbewegung entstanden. Und diese hat längst die Hauptstadt Jerewan erreicht.

Anführer der Demonstrationen in dem Kaukasus-Land ist der einflussreiche Erzbischof von Tawusch, Bagrat Galstanjan. Er strebt ein Amtsenthebungsverfahren gegen Premier Nikol Paschinjan an. Und dafür erhält der charismatische Kirchenmann Unterstützung von Oppositionsparteien. In der Person des 53-jährigen Galstanjan kanalisiert sich die Wut jener Bevölkerungsteile, die aus unterschiedlichen Gründen mit der Paschinjan-Regierung nicht zufrieden sind.

Die Popularität Galstanjans erklärt sich aus der Tatsache, dass «er nicht aus der Politik kommt», sagte der Polit-Analyst Benjamin Poghosjan dem Newsportal von «Radio Free Europe/Radio Liberty». Eine zentrale Kritik der Galstanjan-Bewegung ist die «Beschwichtigungspolitik» gegenüber Aserbaidschan, die nur zu weiteren territorialen Zugeständnissen führen werde. Dagegen sieht die armenische Regierung in ihrem Vorgehen nötige Schritte zu einem Frieden.

Armeniens Rückgabe der im Krieg in den 1990er-Jahren eroberten Dörfer in der Region Tawusch ist Teil eines Plans der Paschinjan-Regierung zur Normalisierung der Beziehungen mit Aserbaidschan, das seine territorialen Begehrlichkeiten notfalls mit Gewalt durchzusetzen bereit ist. Wie im wochenlangen Krieg im Herbst 2020 und zuletzt im September 2023, als Aserbaidschan in einer Blitzoffensive Berg-Karabach unter seine Kontrolle brachte und dann die rund 100’000 armenischen Bewohner vertrieb.

Sorge um Sicherheit und Eigenständigkeit Armeniens

Die Abgabe der vier armenischen Dörfer mag für Aussenstehende wenig relevant erscheinen, doch der Entscheid genügte, um Massendemonstrationen gegen die Regierung auszulösen. Denn diese Dörfer sind eigentlich von strategischer Bedeutung. Durch diese Ortschaften verlaufen Teile der Autobahn nach Georgien, die für den Aussenhandel Armeniens zentral ist, und dort befinden sich militärisch wichtige Stellungen. Zudem haben die territorialen Zugeständnisse an Aserbaidschan bei vielen Menschen in Armenien die bestehende Besorgnis um die Sicherheit und Eigenständigkeit ihres Landes verstärkt. Und die Kirche befürchtet das schrittweise Ende von Armenien als christlicher Nation.

Seit einigen Wochen demonstrieren Tausende bis Zehntausende Menschen in Jerewan. Erzbischof Galstanjan marschiert immer ganz vorne mit. Am Mittwoch kamen erneut Tausende Menschen zum Parlamentsgebäude. Die Polizei griff mit Blendgranaten ein, Dutzende Demonstranten wurden verletzt.

Bei einem Auftritt Ende Mai wandte er sich mit den Worten an die Menge: «Wir sind hierhergekommen, um Paschinjan zu sagen, dass er in diesem Land nichts zu suchen hat.» Bei einer Kundgebung vor einem Monat in Jerewan hatten rund 30’000 Menschen den Rücktritt von Paschinjan gefordert.

Armenian Prime Minister Nikol Pashinyan delivers an address, in Yerevan, Armenia, Sunday, April 25, 2021. Armenia's embattled prime minister officially stepped down from the post in order to allow for an early parliamentary election. Under Armenian law, such elections can be held after a premier resigns and the parliament fails twice to choose a new one.  (Tigran Mehrabyan/PAN Photo via AP)

Die aktuellen Proteste in Jerewan haben allerdings nicht die Wucht der Demonstrationen der Samtenen Revolution von 2018, die den heutigen Premier Paschinjan nach einer Parlamentswahl an die Macht gebracht hatte. Nach Einschätzung von Politbeobachtern ist der Druck von der Strasse zu klein, um den Regierungschef zum Rücktritt zu bewegen. Und für ein Amtsenthebungsverfahren fehlt es am nötigen Rückhalt im Parlament.

Erzbischof Galstanjan hat sich selber als Chef einer Regierung der «nationalen Versöhnung» ins Spiel gebracht, was aber gemäss Beobachtern als unrealistisch erscheint. Laut Analyst Benjamin Poghosjan könnte der Kirchenmann künftig eine wichtige Rolle in der armenischen Politik spielen, etwa als Aushängeschild einer neuen Bewegung bei den Parlamentswahlen 2026.

Galstanjan hatte sich in Grossbritannien und Kanada zum Theologen ausbilden lassen und diente als Primas der kanadischen Diözese der Armenisch-Apostolischen Kirche. Bekanntheit in Armenien erlangte Galstanjan, als er 2015 das Amt des Erzbischofs von Tawusch übernahm, wo er viel beachtete soziale Projekte vorantrieb. Im Kampf von Bischof Galstanjan gegen Premier Paschinjan geht es nicht zuletzt um die Stellung der Kirche in Armenien.

Azerbaijan's President Heydar Aliyev holds a press conference with the German Chancellor after talks at the Chancellery in Berlin, Germany on April 26, 2024. (Photo by Odd ANDERSEN / AFP)

Die Kirche war über Jahrhunderte die wichtigste Institution des armenischen Volkes und Bewahrerin armenischer Geschichte, Sprache und Kultur. Ihre Rolle als Nationalkirche erkennt Armeniens Verfassung bis heute an. Doch Ministerpräsident Paschinjan will den Einfluss der Kirche zurückdrängen. Er möchte die Trennung von Kirche und Staat nach westlichem Vorbild.

Armenien inmitten von geopolitischem Kräftemessen

Die grösste Bedrohung für das christliche Armenien ist aber Aserbaidschan. Aus Baku sind immer wieder imperialistische Drohungen zu vernehmen. Dabei geht es nicht nur um weitere Grenzverschiebungen oder eine direkte Verbindung durch armenisches Staatsgebiet zur Exklave Nachitschewan. Der Autokrat Ilham Alijew, der inzwischen das armenisch-christliche Erbe in Berg-Karabach schleifen lässt, nennt Armenien West-Aserbaidschan und behauptet, die muslimischen Aseri-Türken seien die rechtmässigen Besitzer des Landes.

Die Organisation Christian Solidarity International (CSI) mit Sitz in Zürich schaut mit Sorge nach Armenien. «Alijew sieht sich im Zentrum einer muslimischen pantürkischen Nation, die von der europäischen Türkei im Westen bis zur Chinesischen Mauer im Osten reicht», erklärt CSI-Präsident John Eibner. Alijew und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan würden schon heute von Aserbaidschan und der Türkei als «einer Nation» sprechen. «Das christliche Armenien steht dieser geografischen Einheit im Weg.»

Armenien befindet sich inmitten eines geopolitischen Kräftemessens. Seit es den traditionellen Verbündeten Russland nicht mehr als verlässlich erachtet, verstärkt Armeniens Regierung ihren prowestlichen Kurs und will sich EU sowie Nato annähern. In dieser Woche verkündete Premier Paschinjan den OVKS-Ausstieg Armeniens: Die OVKS ist ein von Russland angeführtes Militärbündnis von ehemaligen Sowjetrepubliken und hatte auch Truppen in Berg-Karabach stationiert. Weder diese Truppen noch russische sogenannte Friedenstruppen hatten in den Konflikt eingegriffen – zur Enttäuschung Armeniens.