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Anne Wills letzte Sendung
Blumen, Versprecher und ein typischer Habeck-Moment

«Wir sind umzingelt von Wirklichkeit. Der ganze Tag ist bedrängt von akuten Problemen, die sofort gelöst werden müssen»: Der deutsche Vizekanzler Robert Habeck bei Anne Will.
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Ein guter erster Eindruck ist oft leichter gemacht als ein passabler Abschied, diese Erfahrung haben schon viele gemacht, die beruflich einmal das Weite suchten, um dann neu durchzustarten. Im Fernsehen verhält es sich in aller Regel nicht anders.

Wie würde es nun Anne Will halten, am Ende ihrer letzten Sendung nach 16 Jahren Dienst am Sonntagabend?

Da war eine gewisse herzliche Sachlichkeit, mit der Anne Will durch ihre Sendung führte und mit der sie sich auch verabschiedete. Man habe doch «etliche Stunden miteinander verbracht», rief sie ihren Zuschauern am späten Sonntagabend zu, es sei ihre eine «echte Ehre» gewesen.

Wettrennen der Blumensträusse

Dank auch dem Sender und dem Team und jetzt aber auch, «haste nicht gesehen, bin ich bei den Tagesthemen» – dort aber stoppte Jessy Wellmer die Übergabe und liess einen Einspieler von der Leine, der in zackigen Schnitten noch einmal in Erinnerung rief, was das für diese Moderatorin und ihr Publikum eigentlich hiess, sich die vergangenen 16 Jahre recht regelmässig miteinander zu verabreden. Es war eine Revue in Katastrophen, Frisuren und Versprechern, die da final vom Band kam, und von Letzteren nur der schönste war, als ein Gast namens Thomas Kramer 2012 Barack Obama einen «Phallus-Sieg» attestierte.

Es folgte ein Wettrennen der ins Bild sausenden Blumensträusse, bei dem sich NDR-Intendant Joachim Knuth knapp durchzusetzen vermochte gegen Wills Redaktionsleiter Tim Kesting. Und dann? Dann war «Anne Will» auf einmal Geschichte. Und das kann sich auch am Tag danach noch etwas komisch anfühlen, weil die Moderatorin in ihrer letzten Sendung zum einen keinen Zweifel daran liess, dass man bitte weiterhin auch öffentlich mit ihr rechnen möge – und weil zum anderen diese letzte Sendung keinen Zweifel daran liess, dass es künftig eher noch mehr an Weltlagen zu besprechen geben wird als heute.

«Wir sind umzingelt von Wirklichkeit … der ganze Tag ist bedrängt von akuten Problemen, die sofort gelöst werden müssen», sagte der grüne Vizekanzler Robert Habeck im Verlauf des Abends in der ihm sehr eigenen Diktion – und er beschrieb damit auch das Vorhaben von Anne Will in dieser letzten Sendung, die sie unter das Motto «Die Welt in Unordnung – Ist Deutschland den Herausforderungen gewachsen?» gestellt hatte. Sie wolle, sagte Will, noch einmal «zusammenkehren», was in diesem Jahr alles von Nachrichtenrang gewesen sei. Etwa die Hälfte der folgenden Sendezeit gebührte der Ukraine, danach ging es über Nahost zum Schluss nach Deutschland.

Klima, Nahost, Ukraine – man habe noch etwa ein Jahr, sagte Kermani, dann könnte die US-Wahl die Verhältnisse «fundamental ändern».

Der Publizist Navid Kermani, den man sonst nie in Talkshows sieht, liess dabei sofort erkennen, dass diese Tatsache eher ein Problem für die Talkshows ist als eines für Navid Kermani. Klima, Nahost, Ukraine – man habe, sagte er, noch etwa ein Jahr, in dem politisch viel erreicht werden müsse, denn schon dann könnten sich mit der Präsidentschaftswahl in den USA die Verhältnisse «fundamental ändern». Habeck sekundierte, «wohlige Naivität» könne man sich nicht mehr leisten, gerade in Deutschland, wo zu lange nach dem Prinzip «Es wird schon alles gut» gedacht wurde.

Wer beim Kauf des Taschenkalenders für 2024 also schon in routinierter Naivität auf ein besseres und vor allem sorgenärmeres Jahr spekuliert hatte, dem wurde im Folgenden recht umfassend erklärt, warum auch Wills Nachfolgerin Caren Miosga kaum Mühe haben wird, Titel und Themen für ihre Sendung zu finden. Die Runde bei Will jedenfalls war sich weitgehend einig darin, dass Deutschland und Europa noch nicht klar geworden sei, was Russlands Krieg in der Ukraine für den ganzen Kontinent bedeute – und wie rasend schnell die Zeit verrinnt, auf dessen weiteren Verlauf Einfluss zu nehmen.

Und wie immer, wenn der Schaden gross ist, tut es im Kleinen gut, wenn er so mit Bedacht vermessen wird durch Navid Kermani. Als Will zum Terror der Hamas und zur Lage in Nahost übergangenen war, beschrieb Kermani zunächst die Unversöhnlichkeit vor Ort, um dann auszuführen, dass «wir, die wir aussen sind» doch verfügten über «die Möglichkeit, den Schmerz beider Völker zu sehen». Die Logik des Entweder-oder sei gewiss «vor Ort im Augenblick nicht aufzulösen» – alle anderen dürften gerne darüber nachdenken, wie nach vielen verlorenen Jahren demnächst die Suche nach einer Art Frieden neu angegangen werden könnte.

Habeck, der unverbindliche Optimist

Schliesslich also: Deutschland. War das nicht eine sonderbare Dramaturgie, von den Krisenherden der Welt zum Milliarden-Kleinklein der derzeit unter höchstem Druck stehenden Ampelregierung? Im Grunde nicht, weil alles an diesem Abend doch darauf hinauslief, dass es eine ganz gute Idee sein könnte, sich als Deutschland mal ein wenig am Riemen zu reissen, wenn sonst schon überall, Verzeihung: die Scheisse in den Ventilator fliegt.

Die Herausforderungen auch für dieses Land und seine politische Führung jedenfalls waren vermessen, als Robert Habeck noch in die Frage Wills leicht hineingrätschend postulierte, es sei auch für ihn «weise», zu den laufenden Haushaltsverhandlungen nicht zu viel zu sagen, unter anderem, weil alles, was derzeit diesbezüglich öffentlich gefordert würde, gute Chancen habe, nicht umgesetzt zu werden, gerade weil es öffentlich gefordert würde. Also deutete der Vizekanzler lediglich an, dass der Kanzler, der Finanzminister und er derzeit gemeinsam die Lesebrillen sattelten, um «in der Tiefe von Haushaltstabellen» Positionen zu finden, die man auf später oder ins Nimmerwiedersehen verschieben könnte. Ob man sich denn einigen würde, fragte Will zum Ende – Habeck versuchte sich in unverbindlichem Optimismus.

Die Wirklichkeit hat das Studio in Adlershof schon wieder umzingelt. Im Nachgang von «Anne Will» fragt ein Trailer für die Sendung «ttt», warum angesichts des Klimanotstands so wenig passiere. Eine Meldung hat da bereits die Runde gemacht: Wegen der pressierenden Verhandlungsnöte zum Haushalt in Deutschland sagt Robert Habeck seine Reise zur Weltklimakonferenz kurzfristig ab.