Emotionale Rede vor EU-ParlamentMerkels ungewöhnlicher Auftritt
Die deutsche Bundeskanzlerin entdeckt die EU als Herzensangelegenheit und wirbt leidenschaftlich für eine rasche Einigung beim Wiederaufbaufonds.
Wenn es um Europa geht, kann Angela Merkel inzwischen sehr leidenschaftlich werden. Am Mittwoch hat die Bundeskanzlerin zum Auftakt des deutschen Ratsvorsitzes vor dem EU-Parlament die Prioritäten ihrer Regierung präsentiert. «Dieses Europa ist zu Grossem fähig, wenn wir einander beistehen und zusammenhalten», sagte Merkel und warb recht emotional für den milliardenschweren Corona-Wiederaufbaufonds, über den die EU nächste Woche an einem Gipfel beraten will.
Es war für die Bundeskanzlerin die erste Reise ausserhalb der Landesgrenzen seit Beginn der Pandemie. Merkel betrat das Gebäude mit einem weissen Mund- und Nasenschutz, den sie abgesehen von ihren Redeauftritten im Plenum aufbehielt. Vor allem seit der Finanz- und Eurokrise verfolgt Merkel der Ruf, zur EU ein ausgesprochen nüchternes Verhältnis zu haben. Gerne wurde dies mit ihrer Herkunft als Ostdeutsche begründet.
Die Union ist ihre Herzensangelegenheit
Ganz anders jetzt in Zeiten von Corona und gegen Ende ihrer Amtszeit: Die Bundeskanzlerin scheint Europa wirklich als Herzensangelegenheit entdeckt zu haben. Für ihre Verhältnisse war es jedenfalls eine ungewöhnliche und recht deutlicher Auftritt vor dem EU-Parlament: «Ich glaube an Europa», rief sie den Abgeordneten zu: «Ich bin überzeugt von Europa, nicht nur als Erbe der Vergangenheit, sondern als Hoffnung und Vision für die Zukunft.» Wobei die deutsche Bundeskanzlerin «Europa» grundsätzlich als Synonym für «Europäische Union» verwendete.
«Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie kostbar die Grundrechte sind, wie elementar die Freiheit ist.»
Erstaunlich auch die Reihenfolge der Prioritäten, die Merkel für ihren wohl letzten EU-Ratsvorsitz präsentierte: «Die Grundrechte, das ist das Erste, was mir am Herzen liegt», sagte die Bundeskanzlerin. Rechtsstaat, Minderheitenrechte und Demokratie seien das Fundament, auf dem Europa ruhe. Während der Corona-Pandemie hätten die Grundrechte zum Teil eingeschränkt werden müssen.
Gerade ihr, die in der DDR in einem System der Unfreiheit habe aufwachsen müssen, sei dies schwergefallen, sagte Merkel. Und betonte gleichzeitig, dass eine Pandemie nie Vorwand sein dürfe, um demokratische Prinzipien auszuhebeln: «Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie kostbar die Grundrechte sind, wie elementar die Freiheit ist.»
Angela Merkel dürfte sich hier an zwei Adressaten gerichtet haben. Einerseits an Ungarns Regierungschef Viktor Orban und an die rechtsnationale Regierung in Warschau, deren Bemühungen, den Rechtsstaat auszuhöhlen, in den anderen EU-Staaten auf wachsendes Unbehagen stossen.
Und nach aussen an die Adresse der chinesischen Führung, die ihr autoritäres Modell immer aggressiver auch in Europa als Alternative präsentiert. Eine Spitze gegen US-Präsident Donald Trump durfte ebenfalls nicht fehlen: Mit Lüge und Desinformation lasse sich die Pandemie nicht bekämpfen, genauso wenig wie mit Hass und Hetze.
Solidarisches Eigeninteresse
Die Wahrung des Zusammenhalts war noch vor der Digitalisierung, dem Kampf gegen den Klimawandel und der Stärkung der Rolle Europas in der Welt die zweite Priorität, die Bundeskanzlerin Merkel anführte. Allein komme niemand durch die Wirtschaftskrise nach Corona, betonte die deutsche Christdemokratin ihr Credo, dass die Nationalstaaten in Europa zu klein seien, um sich zu behaupten: «Wir sind alle verwundbar.» Europäische Solidarität sei dabei nicht einfach nur eine humane Geste, sondern eine nachhaltige Investition, so Merkel.
Es ist das Konzept des «aufgeklärten Selbstinteresses», das gerade in Mode ist. Demnach ist es im Interesse der Nordeuropäer, den vom wirtschaftlichen Einbruch stärker betroffenen Südeuropäern zu helfen. Denn wenn der Binnenmarkt auseinanderbricht, schadet das auch den exportorientierten Volkswirtschaften Deutschlands oder der Niederlande.
Merkel wird da nächste Woche viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, wenn Freitag und Samstag die Staats- und Regierungschefs erstmals wieder zu einem EU-Gipfel zusammenkommen, um über den Corona-Wiederaufbaufonds und einen mehrjährigen Finanzrahmen im Umfang von zusammen 1,8 Billionen Euro zu beraten. «Wir dürfen keine Zeit verlieren, darunter würden nur die Schwächsten leiden», trieb Merkel zur Eile. Einigkeit und Zusammenhalt seien aber auch deshalb nötig, weil EU-Gegner nur darauf warteten, die Krise für ihre Zwecke zu missbrauchen.
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