Mission «Europa retten»Merkels politisches Vermächtnis
Mitten in der schwersten Krise übernimmt Deutschland den Vorsitz der EU. Angela Merkel soll das Corona-gebeutelte Europa wieder einen und Türen in die Zukunft aufstossen.
Als Angela Merkel das letzte Mal für sechs Monate den Rat der EU leitete, war die Lage ebenfalls schwierig: Nach den verlorenen Referenden in Frankreich und den Niederlanden sollte die deutsche Kanzlerin 2007 die Herzstücke der gescheiterten europäischen Verfassung in einen Vertrag retten. Es gelang ihr. Die Politiker, mit denen sie damals zu tun hatte, hiessen Tony Blair, Jacques Chirac oder Romano Prodi.
13 Jahre danach ist Merkel immer noch da, aber die Probleme, die die EU quälen, sind viel grösser geworden: Die Corona-Pandemie hat zu einem beispiellosen wirtschaftlichen Einbruch geführt, der den Zusammenhalt Europas ernsthaft bedroht. Und mit Grossbritannien hat erstmals überhaupt ein Mitglied den «Club» verlassen.
«Die grösste Krise der EU»
Selbst Merkel, die schon viel überstanden hat und nicht zu Superlativen neigt, nennt die Herausforderung die «grösste in der Geschichte der Europäischen Union». Die Pandemie habe die Ungleichheiten vertieft. Wer verhindern wolle, dass die Union zerfalle, müsse jetzt Aussergewöhnliches tun. Angesichts des Leids in Ländern wie Italien oder Spanien dürfe Deutschland nicht nur an sich selbst denken, sondern müsse zu einem «aussergewöhnlichen Akt der Solidarität» bereit sein. Dies liege auch im eigenen Interesse, da Deutschland für seine Exporte vom Binnenmarkt abhänge.
Der «Akt der Solidarität», von dem Merkel sprach, ist ihr Versprechen, der EU nun erstmals zu erlauben, gemeinschaftlich Schulden aufzunehmen: 750 Milliarden Euro schwer soll der «Wiederaufbaufonds» werden. Zu zwei Dritteln soll das Geld nicht in Form von Krediten, sondern als Zuschüsse an die notleidenden Mitglieder verteilt werden.
Wieder eine Kehrtwende
Erneut hat die bald 66-Jährige damit auf einen schweren Schock mit einer abrupten Kehrtwende reagiert. Noch in der Eurokrise hatte sie das deutsche Veto gegen die Vergemeinschaftung von Schulden unerbittlich verteidigt. Und nun wird ausgerechnet sie die «Schuldenunion» in Realität und Gesetz verwandeln. Begleitet von den Hoffnungen und dem Misstrauen der Südländer wird die Deutsche den Widerstand der Sparsamen Vier aus dem Norden aufweichen und einen Kompromiss finden müssen, der auch noch den siebenjährigen Haushaltsrahmen der EU umspannt – eine gewaltige Aufgabe. Wenn jemand es schafft, meinen Beobachter, dann Merkel.
Es sei ein Glücksfall, dass ausgerechnet die krisen- und verhandlungsfeste Langzeitkanzlerin des wirtschaftlich mächtigsten Landes jetzt die Ratspräsidentschaft übernehme, sagt man in Brüssel. Entsprechend riesig sind die Erwartungen in Ländern wie Italien und Spanien – die Absturzgefahr freilich auch. Für Merkel, die 2021 abtritt, kommt das Wirken im nächsten Halbjahr jedenfalls einem europapolitischen Vermächtnis gleich.
Merkel, die «Kopfeuropäerin»
Im Vergleich zu ihrem christdemokratischen Vorgänger Helmut Kohl fiel Merkel in ihrer 15-jährigen Kanzlerschaft bisher nicht als «Herzenseuropäerin» auf. Im Unterschied zu deutschen Grünen und Sozialdemokraten träumte sie nie von «Vereinigten Staaten von Europa». Anders als manche französische Präsidenten entwickelte sie keine Visionen für eine notwendigerweise «immer engere Union».
Merkel war Europäerin, weil sie es als Deutsche für vernünftig hielt, im europäischen Kontext zu handeln. Statt an Visionen mass sie die Entwicklung der Union nüchtern am Nutzen für die beteiligten Nationalstaaten, durchaus auch am wirtschaftlichen. Die Erfahrung lehrte sie, dass die EU nicht an Visionen wächst, sondern an Krisen. Zuletzt verstärkte sich ihre Einsicht, dass auch grosse Länder wie Deutschland und Frankreich sich in einer feindseliger werdenden Welt nur noch gemeinsam behaupten können.
Auf einmal leidenschaftlich
Der Corona-Schock hat nun aber selbst bei der «Kopfeuropäerin» Merkel jene Leidenschaft geweckt, die viele Europäer immer vermisst hatten. Kürzlich sagte sie im Bundestag, als Deutsche, die die ersten 35 Jahre ihres Lebens in der DDR verbracht habe, erfülle sie Europa mit seinem Versprechen von Freiheit und Gleichheit «mit grosser Dankbarkeit». Im Vergleich zu früher klang es wie ein Liebesbekenntnis.
Wunder sollte man von ihr trotzdem nicht erwarten. Sie stimmt auch keineswegs plötzlich allen Ideen Emmanuel Macrons zu, nur weil sie den Hilfsfonds mit ihm entwickelt hat. Im Unterschied zum französischen Präsidenten, der in einer kleineren, aber stärker integrierten EU viele Vorteile sähe (nicht zuletzt für Frankreich), will die Deutsche mit allen Mitteln verhindern, dass sich die Union weiter spaltet. Darum bemüht sie sich, Nord und Süd zusammenhalten, West und Ost.
Angela Merkel kann jetzt tun, was sie muss. Sie ist jetzt frei.
Doch warum wurde sie erst ganz zum Schluss zur leidenschaftlichen «Europäerin»? Weil sie muss, sagen Weggefährten: Die dramatische Lage zwinge sie dazu. Und weil sie kann. Gegen Ende ihrer Kanzlerschaft wird Merkel in Deutschland wieder von einer Zustimmung getragen wie zu ihren besten Zeiten. Im Unterschied zur Eurokrise hat sie diesmal auch ihre Partei hinter sich. Und im Unterschied zu Macron, der der Wahl 2022 entgegenzittert, muss sie nicht mehr wiedergewählt werden. Sie kann jetzt tun, was sie muss. Sie ist jetzt frei.
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