Die Leidensgeschichte des Siegers von Lake Louise
Der Vater starb in einer Gondel, und Thomas Dressen erlebte Fürchterliches auch auf der Piste. Nun kehrt der Kitzbühel-Sieger 2018 mit einem Triumph zurück – nach Totalschaden im Knie.
Ja, mein Gott. Alles halb so wild. Das «Kreuzbanderl» hats ihm gerissen, den Innen- und den Aussenmeniskus auch. Und das «Innenbanderl». Der Knorpel war zerstört. Das rechte Knie: ein Trümmerhaufen. Ja mei. Was solls? Hilft ja nichts. Was passiert ist, ist passiert, so sagt das Thomas Dressen.
Passiert ist es vor einem Jahr, in der Abfahrt von Beaver Creek. Eine Welle, ein kleiner Ruckler, ein heftiger Schlag aufs Knie, Abflug ins Netz. Dort lag er nun, der grosse Aufsteiger des vorangegangen Winters, der Überraschungssieger von Kitzbühel 2018, hilflos im Schnee.
Der brutale Stich ins Knie hatte die Konzentration weggeblasen, der Sturz war unkontrolliert, er schoss mit dem rechten Arm in die pickelharte Piste, die Schulter drückte es nach hinten aus der Gelenkpfanne. «Zum Glück», findet er, waren die Schmerzen im Knie schier unerträglich, er merkte gar nicht, dass diese weiter oben ebenso gross wären.
Dressen versucht, mit dem rechten Arm zur linken Schulter zu kommen, doch der hängt fest. Also zieht er die linke Schulter hoch, reisst sie nach unten – «zack», sagt er, war sie wieder drin. «Und blöd, wie ich bin, will ich schauen, ob sie wirklich drin ist, kreise mit dem Arm und …» Genau: zack, sie ist wieder draussen. Er dreht weiter, bis sie wieder eingekugelt ist.
In der Form seines Lebens
Nun sitzt Dressen auf einem tiefen Sessel im Foyer des Hotels Chateau in Lake Louise. Kronleuchter hängen von der Decke, eine grosse Tanne, mit nordamerikanischem Hang zu allerlei Gefunkel geschmückt, steht in der Mitte des Raums. Es ist der Ort, an dem sich die Speedfahrer ihr erstes Stelldichein der Saison geben. Und Dressen ist wieder mittendrin.
Er erzählt vom Unfall im Detail, und doch winkt er immer wieder ab – ja mei, andere triffts doch viel härter. Dabei könnte der 26-Jährige durchaus hadern, befand er sich doch damals, Ende November 2018, in der Form seines Lebens. Doch Dressen ist keiner, der zurückblickt, es hat ihm schon oft geholfen. Einmal noch schaute er sich seinen Sturz an, am Tag des Unfalls selbst, «um das gleich abzuschliessen». Dann ging es um die Planung der Rehabilitation.
Er schuftete im Kraftraum, kämpfte jüngst auf den Pisten in Chile und Kanada für die Rückkehr. Das grösste Problem: der Kopf. Er war das Tempo nicht mehr gewohnt. «Ich habe zu langsam gedacht», sagt Dressen. Sprung, Kurve, Welle – und der Kopf kam nicht nach. «Ich geriet in Stress, wurde passiv, weil ich nicht mehr Herr der Lage war.» Mit jedem Lauf wurde es besser. Und am Samstag, nach zwei respektablen Trainings, gewann er auf wundersame Weise sein zweites Weltcuprennen.
Ja mei, mein Gott, gibt Schlimmeres – es ist nicht nur so dahergeredet von Dressen. Der gebürtige Bayer, der mit seiner Freundin im oberösterreichischen Scharnstein wohnt, hat schon ganz anderes erlebt.
Die 44 auf dem Helm
Im Herbst 2005, Dressen war elf und an der Skihauptschule Neustift in Österreich, kam sein Vater ums Leben. Dirk Dressen, einst Biathlet, später Skitrainer, war mit einer Kindergruppe nach Sölden gereist, sass in einer Gondel, als sich über der Seilbahn ein 750 kg schwerer Betoneimer von einem Helikopter löste und ihn mit acht weiteren Menschen in den Tod riss.
Am Helm seines Sohnes prangt heute die Zahl 44, für den vierten Buchstaben des Alphabets, DD, die Initialen seines Vaters. Er denke oft an ihn, sagt Thomas Dressen. Aber den Weg, den er konsequent weiterging, habe er nur für sich gemacht, nicht im Gedenken an seinen Vater, der sein erster Förderer war. «Täte ich das für jemand anderen, würde ich mich irgendwann verlieren.»
Der Knall auf der Piste
Kurz nach dem Tod seines Vaters erlebte Dressen das Grauen auf der Piste. Er knallte in einen anderen Skifahrer, erlitt einen Schädelbasisbruch, einen Jochbeinbruch, der Oberkiefer war zertrümmert – «da stand es auf Spitz und Knopf», sagt er. Wäre Hirnflüssigkeit ausgetreten, er weiss nicht, ob er heute noch da wäre, und wenn, in welchem Zustand. «Zum Glück hatte ich Brüche», sagt er, «dadurch konnte der Druck entweichen.»
Der junge Bub hatte danach Mühe, sich in der Schule zu konzentrieren, «das Kurzzeitgedächtnis war komplett weg». Noch heute passiert es ihm, dass er in einem Gespräch mehrmals die gleiche Frage stellt, Wetterumschwünge spürt er, die linke Seite seines Gesichts ist leicht taub.
Die Frage war trotzdem nie ob, sondern nur wann er auf die Piste zurückkehren würde. Dressen wechselte ans Skigymnasium Saalfelden, war einer der Talentiertesten, holte Riesenslalom- und Abfahrtssilber an der Junioren-WM. Im Januar 2015, mit 21, debütierte er im Weltcup.
Und nun ist er nach einjähriger Pause zurück, als eine der grössten Figuren im Abfahrtszirkus – und kaltschnäuzig wie zuvor. Er sagt: «Es kann überall etwas passieren, ich kann auf der Treppe ausrutschen oder in der Dusche. Aber klar: Wir haben von Haus aus ein höheres Risiko, wir suchen das Adrenalin, das Limit, wir versuchen, die Grenzen zu verschieben, schneller zu werden, immer schneller. Ja: Dann steigt das Risiko.» Aber, sagt er noch, «deshalb würde ich mir nie die Frage stellen, ob ich aufhören soll. Die einzigen Gründe wären: Ich habe keinen Spass mehr. Ich bin nicht mehr konkurrenzfähig. Oder ich bin zu schwer verletzt.»
Thomas Dressen würde wohl auch damit zurechtkommen.
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