Quereinsteiger auf der AlinghiGesucht: Kraftpakete. Nicht nötig: Segelkenntnisse
Für das Abenteuer America’s Cup braucht Alinghi Red Bull nicht nur erfahrene Segler, sondern auch durchtrainierte Superathleten. An die Turbulenzen an Bord mussten die sich erst gewöhnen.
Plötzlich neigt sich der Bug vornüber. Aus mehreren Metern bohrt sich das Schiff in die Wellen und wird vom Wasser sofort gebremst, innerhalb weniger Hundertstel. Die Segler staucht es in ihren Cockpits zusammen, der Aufprall an der Verschalung ist hart.
Die Kräfte, die auf einem Rennboot wie der Alinghi AC75 wirken, sind immens. Kein Wunder, bei Geschwindigkeiten von bis zu 100 km/h, die dank der Foil-Technik möglich sind. Die Jachten können, erst recht bei starkem Wellengang, zu Monstern werden.
Nico Stahlberg musste das auf die harte Tour lernen. Seit eineinhalb Jahren segelt er auf der Alinghi mit und hat während Trainingsfahrten vor Barcelona schon den einen oder anderen dieser «nose dives» erlebt. «Das fühlt sich an wie eine Bobfahrt oder wie ein Boxkampf», sagt der 32-jährige Thurgauer. «Die G-Kräfte drücken dich voll an die Wand.»
Stahlberg musste sich an die rauen Bedingungen an Bord erst gewöhnen, denn er ist Quereinsteiger im Segelsport. Zwar verbrachte er einen grossen Teil seines Lebens auf dem Wasser, aber in ruhigeren Gewässern: 19 Jahre lang war Stahlberg Ruderer, einer der besten der Schweiz gar. 2012 und 2016 nahm er an den Olympischen Spielen teil und erreichte im Doppelvierer zweimal den B-Final. Bei der zweiten Teilnahme resultierte für das Team ein olympisches Diplom.
Im Herbst 2021 beendete Stahlberg seine Karriere. Grund war zum einen die Enttäuschung, es nicht an die Olympischen Spiele nach Tokio geschafft zu haben. Zum anderen musste er sich zu jener Zeit gleich beide Hüften operieren lassen. Dass er kurz vor dem Abschluss seines Forstwirtschaftsstudiums stand, kam hinzu. Es winkte die Aussicht, auf Kantonsebene als Forstingenieur zu arbeiten. «Die Natur ist meine Leidenschaft», sagt er, was auch bedeutete: «Es war Zeit, die Sportkleider zu versorgen.»
Dass er es nun mit den Naturgewalten auf See zu tun bekommt, war nicht geplant. Im November 2021 gab Alinghi bekannt, wieder am America’s Cup teilnehmen zu wollen, 2024 sollte es so weit sein, 14 Jahre nach der bitteren Niederlage gegen das Team USA. Neuer Passus im Reglement der ältesten Segelregatta der Welt: Es dürfen nur eigene Landsleute auf dem Boot segeln.
Der Rennstall aus Genf, wegen des Sponsors Alinghi Red Bull Racing genannt, braucht für das Comeback also Schweizer. Und nicht nur Segler – er braucht auch Grinder, die die Hydraulik an Bord ankurbeln. Die Struktur im Team sieht vor, dass es eine Driving Group gibt, bestehend aus den besten Seglern des Landes – und eine Power Group. Diese sorgt mit vier fest verankerten Heimtrainern für Energie. Die Kraft der Alinghi kommt diesmal aus den Beinen.
Für die Power Group lud Alinghi Red Bull auch branchenfremde Sportler zum Auswahlverfahren ein: Ruderer, Kanuten, Leichtathleten, Veloprofis oder Crossfitter. Grundvoraussetzung: Muskelmasse. Weniger gefragt: Erfahrungen in einem Segelboot.
Grosse Emotionen nach der Auswahl
Für Stahlberg, in der Nähe des Bodensees aufgewachsen, war nur schon die Einladung eine Freude. Dass er schliesslich sogar ausgewählt wurde, löste grosse Emotionen aus. «Ich hatte die Alinghi-Rennen einst mit meinem Vater geschaut und war sofort bereit, mich dafür wieder im Kraftraum zu schinden.»
Neben ihm schafften es drei weitere ehemalige Ruderer in die Power Group von Alinghi Red Bull – unter anderem Augustin Maillefer und Barnabé Delarze, die mit Stahlberg in Rio im Doppelvierer gefahren waren. Hinzu kamen drei Segler, mit Théry Schir ein früherer Veloprofi und mit Franco Noti ein einstiger Mittelstreckenläufer. Letzterer, ein 26-jähriger Berner, stiess erst kürzlich zum Team.
Théry Schir, 30-jähriger Vaudois aus Lausanne, fuhr in seiner früheren Karriere vor allem auf der Bahn, bestritt aber auch Strassenrennen und Zeitfahren. 2011 wurde er an der Seite von Stefan Küng Madison-Europameister bei den Junioren. 2018 gewann er in der Mannschaftsverfolgung EM-Silber. Auch er nahm an den Olympischen Spielen 2016 teil.
«Als ich an meinem ersten Tag zur Alinghi-Basis kam, hatte ich keine Ahnung», erzählt Schir. «Plötzlich musste ich Taue knoten, es war irgendwie surreal.» Und: Er musste Gewicht zulegen. «Ich war zu leicht und erhielt deshalb einen speziellen Ernährungsplan mit fünf bis sechs Mahlzeiten pro Tag. Mir fiel das viele Essen sehr schwer, es war das exakte Gegenteil von dem, was ich einst als Velofahrer getan habe», erzählt er. Der Effekt stellte sich aber bald ein: In den ersten Monaten nahm Schir neun Kilo zu.
Bei Nico Stahlberg stellte sich dieses Problem nicht, er ist wie die meisten in seiner früheren Sportart gross gewachsen und kräftig gebaut. Er sagt: «Ruderer sind komplette Sportler, wir sind von den Schultern bis zu den Beinen durchtrainiert, bringen Kraft, Ausdauer und auch das Gewicht mit, das es auf dem Boot braucht.»
Trotzdem musste Stahlberg wie die restlichen Quereinsteiger auch erst auf seine Seetüchtigkeit überprüft werden. «Was, wenn einer seekrank wird? Oder wenn jemandem der Speed Angst macht?», gibt der italienische Coach Pietro Sibelli zu bedenken. Doch auch wenn es schüttelt und rüttelt auf dem Wasser: «Bislang ist noch jeder mit einem Lachen vom Boot gekommen.»
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