Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Tod des Kremlkritikers
Nawalnys Todeszeit Freitag, 14.17 Uhr – oder doch nicht?

ST  PETERSBURG, RUSSIA - 2024/02/16: A view of a spontaneous memorial in memory of the deceased Russian oppositionist Alexei Navalny, organized at the monument to victims of political repression on Voskresenskaya Embankment. Russian opposition leader Alexei Navalny reportedly died in the IK-3 prison colony, known as the "Polar Wolf," in the Yamalo-Nenets Autonomous Okrug, according to the press service of the Federal Penitentiary Service. Prison authorities indicated that Navalny felt unwell after a walk on Friday. He was last seen in good spirits during a court video link appearance just a day before. (Photo by Artem Priakhin/SOPA Images/LightRocket via Getty Images)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Dem Häftling kam irgendetwas seltsam vor. Zwischen 20 Uhr und 20.30 Uhr am Abend werden in der Strafkolonie Nr. 3 am Polarkreis üblicherweise die Gefangenen überprüft. Es passiere schon mal, dass vor einem Feiertag alles etwas schneller ablaufe. Diesmal aber stand kein Feiertag an. Es war Donnerstagabend, der mutmasslich letzte Abend im Leben von Alexei Nawalny, und ein Mitgefangener, mit dem die russische Zeitung «Nowaja Gaseta Europa» Kontakt hat, berichtete ihr anonym von einigen Merkwürdigkeiten in diesen Stunden.

Dreimal fuhren Autos vor

Die Überprüfung sei am Abend ohne erkennbaren Anlass stark beschleunigt, der Wachdienst verschärft worden, und niemand, so seien sie gewarnt worden, dürfe zwischen den Baracken unterwegs sein. Spät am Abend und in der Nacht seien dreimal Autos vorgefahren. Anders als es die russische Strafvollzugsbehörde erklärt hatte, bemerkte der Gefangene am nächsten Morgen angeblich kein Rettungsfahrzeug – erst als die Nachricht von Nawalnys Tod schon bekannt war. Der Gefangene habe nach dem Bericht der «Nowaja Gaseta» aus all dem den Schluss gezogen: Nawalny starb unerwartet, seiner Ansicht nach wohl schon am Donnerstagabend.

CORRECTS DATE TO FEBRUARY 15  -  This photo taken from video released by Russian Federal Penitentiary Service via SOTAVISION shows Russian opposition leader Alexei Navalny appears via a video link from the Arctic penal colony in Kharp, in the Yamalo-Nenetsk region about 1,900 kilometers (1,200 miles) northeast of Moscow, where he is serving a 19-year sentence, in Kovrov, Russia, on Feb. 15, 2024. Shortly after Navalny's death was reported on Friday Feb. 16, 2024, the Russian SOTA social media channel shared images of the opposition politician reportedly in court yesterday. In the footage, Navalny is seen standing up and is laughing and joking with the judge via video link. (Russian Federal Penitentiary Service via SOTAVISION via AP)

Über den Tod des bekannten russischen Oppositionsführers wird seit Freitag viel spekuliert. Woran genau ist er gestorben, und warum konnte er am Tag zuvor noch so fröhlich bei einem Gerichtsauftritt witzeln? Ging es Nawalny sehr viel schlechter, als er vorgab? Wo ist seine Leiche? Werden die Angehörigen sie sehen können? Und wann? Offizielle Angaben gab es bis zum Wochenende kaum. Die russische Strafvollzugsbehörde (FSIN) hatte die Todeszeit mit 14.17 Uhr am Freitag angegeben.

Die Mutter hat ihren Sohn noch nicht gesehen

Am Sonntag berichtete die «Nowaja Gaseta Europa», dass Nawalnys Leichnam im Leichenschauhaus des Spitals von Salechard liege, einem vierstöckigen hellbraunen Gebäude in der Hauptstadt des autonomen Kreises der Jamal-Nenzen. Nawalnys Mutter ist am Wochenende dorthin gereist und hat die Todesnachricht bestätigt bekommen, ihren Sohn hat sie noch nicht sehen können.

epaselect epa11163090 A general view through an installation that reads 'Happiness is not far away' of the Kharp settlement, which houses the IK-3 penal colony, where Russian opposition leader Alexei Navalny served his sentence and where he died, in Kharp, Yamal-Nenets Region, Russia, 18 February 2024. Russian opposition leader and outspoken Kremlin critic Alexei Navalny has died aged 47 in a penal colony, the Federal Penitentiary Service of the Yamalo-Nenets Autonomous District announced on 16 February 2024. A prison service statement said that Navalny 'felt unwell' after a walk on 16 February, and it was investigating the causes of his death. In late 2023 Navalny was transferred to an Arctic penal colony considered one of the harshest prisons.  EPA/ANATOLY MALTSEV

Nach dem Bericht der «Nowaja Gaseta» sind auf dem Leichnam blaue Flecken, die einem Mediziner zufolge von Krämpfen oder Wiederbelebungsversuchen herrühren könnten. Doch warum letztendlich sein Herz aufhörte zu schlagen, als er nach einem Gefängnisspaziergang zusammenbrach, wegen einer Embolie, wie es zunächst geheissen hatte, das wird noch untersucht. Die «Nowaja Gaseta» berichtete, die Gefängnisleitung habe gegenüber Nawalnys Mutter ein «Syndrom des plötzlichen Todes» erwähnt, eine Diagnose, die es nach Angaben unabhängiger Spezialisten so gar nicht gebe.

Ewa Lewenberg, russische Strafrechtsexpertin der Bürgerrechtsplattform OVD-Info, sagte, dass eine Standarduntersuchung des Leichnams drei Tage dauere, aber bei Nawalny bis zu 30 Tage oder noch mehr nötig sein könnten. Dieser Fall sei «für sich genommen ausreichend ungewöhnlich», sagte Lewenberg dem Onlinemedium Agentstwo.

A woman holds a small poster with the words reading "not dead but killed" as she walks to lay flowers paying the last respect to Alexei Navalny at the monument, a large boulder from the Solovetsky islands, where the first camp of the Gulag political prison system was established, in St. Petersburg, Russia on Saturday, Feb. 17, 2024. Russian authorities say that Alexei Navalny, the fiercest foe of Russian President Vladimir Putin who crusaded against official corruption and staged massive anti-Kremlin protests, died in prison. He was 47. (AP Photo)

Die Mitarbeiter von Nawalny forderten die russischen Behörden auf, den Leichnam rasch seiner Familie zu übergeben. Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch schrieb auf X, es sei offensichtlich, «dass sie alles dafür tun, damit sie den Leichnam nicht übergeben». Vor dreieinhalb Jahren habe Wladimir Putin versucht, Nawalny zu töten. «Gestern hat er ihn getötet», sagte sie am Samstag. Das unabhängige Menschenrechtsprojekt OVD-Info berichtete, dass bereits mehr als 12’000 Menschen seinem Aufruf an die Ermittlungsbehörden gefolgt seien, Nawalnys Leichnam seinen Angehörigen zu übergeben.

Der Kreml will Unruhe vermeiden und unterdrücken

Doch das dürfte vermutlich erst geschehen, wenn die Obduktion abgeschlossen ist. So kurz vor der Wahl könnte das bedeuten, dass die verlängerte Zeitspanne von 30 Tagen ausgeschöpft wird. Die Präsidentenwahl findet am 17. März statt. Kremlchef Putin, den die Mitarbeiter Nawalnys, aber auch US-Präsident Joe Biden und andere westliche Politiker für seinen Tod verantwortlich machen, will sich dann erneut für sechs Jahre im Amt bestätigen lassen. Bis dahin will der Kreml Unruhe im Land möglichst vermeiden und unterdrücken.

Einen Monat vor der Präsidentenwahl in Russland ist der Tod des Oppositionellen Nawalny für den regierungskritischen Teil der Bevölkerung ein schwerer Schlag. Wegen seiner Haft hatte er zwar an Einflussmöglichkeiten verloren; seine Antikorruptionsstiftung wurde als «extremistisch» eingestuft und verboten, im ganzen Land wurden Mitarbeiter schikaniert, festgenommen, viele flüchteten ins Ausland. Und im Dezember hatten ihn die Vollzugsbehörden auch noch in die 2000 Kilometer von Moskau entfernte Strafkolonie «Polarwolf» verlegt, sodass seine Anwälte nur unter Strapazen dorthin reisen konnten.

Police detain a man as he wanted to lay flowers paying their last respect to Alexei Navalny at the monument, a large boulder from the Solovetsky islands, where the first camp of the Gulag political prison system was established, in St. Petersburg, Russia on Saturday, Feb. 17, 2024. Russian authorities say that Alexei Navalny, the fiercest foe of Russian President Vladimir Putin who crusaded against official corruption and staged massive anti-Kremlin protests, died in prison. He was 47. (AP Photo)

Trotzdem ist Nawalny für Andersdenkende immer eine Projektionsfläche gewesen, jemand, hinter dem sich viele versammelten, da es im Parlament praktisch keine echte Opposition gibt, und nun, zur Wahl, wieder mal eine Kandidatin (Jekaterina Dunzowa) und ein Kandidat (Boris Nadeschdin) von der Wahlkommission abgelehnt wurden, die sich gegen den Krieg in der Ukraine aussprachen. Nawalny gab ihnen über Jahre das Gefühl, nicht allein zu sein. «Habt keine Angst», diese Botschaft hatte er immer wieder auf Zetteln durch die Gitterstäbe an seine Unterstützer verbreitet.

Nun ist er tot, und die Trauer in Russland war am Wochenende in vielen Städten des Landes spürbar. Die meisten Russinnen und Russen trauerten in Moskau und Sankt Petersburg um Nawalny. In der Stadt an der Newa steckten Menschen an einem Teich rote Nelken in den Schnee, in Moskau hielt eine junge Frau ein Schild hoch, auf das sie geschrieben hatte: «Mörder». Zwei Polizisten standen schon neben ihr und griffen nach ihren Armen. Das Portal OVD-Info berichtete am Sonntagnachmittag auf seiner Website, dass wegen der öffentlichen Trauer über Nawalnys Tod am Wochenende bereits 400 Menschen festgenommen worden seien.