Generalsekretär im GesprächAlain Berset: «Wir haben uns zu stark auf unsere Stärken verlassen»
Der Alt-Bundesrat beklagt die Wehrhaftigkeit Europas. Im Vergleich zu den Grossmächten agiere der Kontinent zu langsam.
![Alain Berset im Interview, diskutiert seine Rolle als Generalsekretär des Europarates, aufgenommen am 9. September 2024 in Bern.](https://cdn.unitycms.io/images/4qTrsBVt4aOBjxxw5Du5z_.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=mFEZSOZtJhg)
Es ist ein Standing für die Schweiz: Seit September ist Alain Berset Generalsekretär des Europarats. Die Organisation wacht über die Menschenrechtskonvention und umfasst den Europäischen Gerichtshof. Berset an der Spitze ist für die strategische Planung zuständig. Im Interview mit der NZZ spricht er über die Position Europas, den Krieg in der Ukraine und das Urteil des Strassburger Gerichtshofs gegen die Schweiz.
Im Gespräch unterstreicht der Generalsekretär die politische und kulturelle Vielseitigkeit Europas. Gleichzeitig geht er auf die damit verbundenen Schwierigkeiten ein. Während Grossmächte wie China oder die USA handelten, philosophiere Europa über seine Identität. «Wir haben in der Vergangenheit zu lange zu langsam reagiert und uns zu stark auf unsere Stärken verlassen», so Berset.
Der Alt-Bundesrat spricht die zahlreichen Herausforderungen, die Europa in den letzten Jahren getroffen haben, an: Finanzkrise, Aufstieg des Populismus, Fragmentierung der Gesellschaft, Pandemie und natürlich den Krieg in der Ukraine. «Immerhin gibt es jetzt niemanden mehr in Europa, der sich auf alten Gewissheiten ausruhen will und denkt, dass es nicht notwendig ist, etwas zu ändern», sagt Berset. Die aktuelle Dekade sei ein Weckruf.
Ukraine-Krieg: Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen
Der Europarat engagiert sich für die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit. In diesem Kontext beschäftigt er sich auch mit dem Krieg in der Ukraine. Unter anderem führe der Rat ein Schadensregister, erklärt Berset. Darin würden die Verluste erfasst, die Personen oder Einrichtungen in der Ukraine seit der russischen Invasion erlitten hätten. «Die Datenbank gilt als Grundlage für spätere Reparationszahlungen», so Berset. Inzwischen habe der Rat bereits 13’000 Einträge registriert.
Russland ist zwar seit 2022 kein Mitglied mehr des Rates und kann deshalb nicht mehr vom Gerichtshof zur Verantwortung gezogen werden. Trotzdem verurteilt das Gericht die Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine. Seit 2014 habe sich der Gerichtshof mit Tausenden Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine befasst, sagt der Generalsekretär. Derzeit tue er es in über 4000 Fällen.
Zudem habe sich der Rat letzte Woche zusammen mit der EU bei der Einrichtung eines Sondertribunals für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine geeinigt. Damit soll Russland zur Rechenschaft gezogen werden. «Es darf keine Straflosigkeit geben», bekräftigt Berset.
Urteil des EGMR: Berset zeigt sich überrascht über Vehemenz der Debatte
Im April vergangenen Jahres feierten die Klimaseniorinnen ihren grossen Sieg: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rügte auf ihre Klage hin die Schweiz dafür, sich zu wenig im Kampf gegen den Klimawandel zu engagieren. Der Fall löste eine emotional geführte Debatte aus. Bundesrat und Parlament sprachen sich gegen das Urteil aus. Von der SVP kam die Forderung auf, die Europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen.
Berset masst sich nicht an, das Verdikt inhaltlich zu kommentieren. Er sagt aber: «Der Klimawandel hat sehr wohl Einfluss auf die Menschenrechte.» Die Vehemenz der Reaktionen habe ihn überrascht. Er bezeichnet die Argumentation als «nicht immer sehr begründet» und «innenpolitisch motiviert».
Der Generalsekretär unterstreicht, dass das Urteil auch als Chance gesehen werden könne: Im anstehenden politischen Prozess habe die Schweiz die Möglichkeit, aufzuzeigen, warum sie die klimapolitischen Anforderungen des Urteils bereits erfülle. Er führt aus: «Das Ministerkomitee wird der Darlegung zuhören, das Ganze ist ein Dialog.»
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