Ein afghanischer Autor berichtetAfghanistan ist noch nicht verloren, oder?
Der Kabuler Schriftsteller Taqi Akhlaqi war gerade nicht im Land, als die Taliban kamen. Ein Bericht über Schuldgefühle und das, was jetzt noch helfen kann.
Jede Geschichte hat ein Ende, das ist unausweichlich, aber nie hätte ich mir vorgestellt, dass es ein so tragisches, niederschmetterndes, schockierendes Ende geben könnte für die Islamische Republik Afghanistan. Wäre das Ganze nur eine Erzählung, würde ich mir die Zeit nehmen, die ganze Geschichte zu rezensieren, vom Anfang bis zum Schluss, in hymnischer Bewunderung für den Verfasser. Er sei, würde ich sagen, offenkundig beeinflusst von Franz Kafka, Edgar Allan Poe und Stephen King. Das Problem aber ist, dass es keine Erzählung ist. Es ist einfach eine surreale Wirklichkeit, die sich direkt vor unseren Augen abspielt. Und egal, wie fest wir uns die Augen reiben, sobald wir sie wieder öffnen, ist sie immer noch da.
Vor achtundzwanzig Tagen, als ich mit meiner Familie Kabul verliess, um Delhi zu besuchen, war alles noch normal. Es gab keine Anzeichen, dass sich in naher Zukunft irgendetwas rasch verändern könnte. Wir liessen also alles hinter uns, in der Zuversicht, bald zurückzukehren. Jetzt aber bin ich mir über gar nichts mehr sicher. Wir stecken hier fest, lesen die letzten Seiten einer tristen Geschichte, einer Geschichte, in der es zwischendurch viele glückliche, erregende, zauberhafte Momente gab. Mit all diesen Auf und Abs ist es nun vorbei.
Ich bin in panischer Angst, einer meiner Lieben könnte etwas schrecklich Falsches tun.
Ich schlafe jeden Tag nur wenige Stunden, verfolge die ganze Zeit die Nachrichten, rufe meine Eltern, Brüder, Schwestern, Freunde in Kabul an. Ich aktualisiere meinen Newsfeed und scrolle dauernd darin herum, immer auf der Suche nach irgendeiner verheissungsvollen Nachricht, aber die ist nicht leicht zu finden. Je länger ich im Internet umherdrifte, auf desto mehr schlechte Nachrichten stosse ich stattdessen. Alle sind verzweifelt, hilflos, schockiert und wütend. Ich bin in panischer Angst, einer meiner Lieben könnte etwas schrecklich Falsches tun, zum Beispiel aufs Rollfeld eines Flugplatzes rennen und auf ein Flugzeug klettern. Die Panik paralysiert den Verstand und vernebelt das Urteilsvermögen. Deshalb muss ich regelmässig in Kontakt mit ihnen bleiben, immer neu die Situation mit ihnen diskutieren, sie bitten, ruhig zu bleiben.
Ein Freund, er lehrt an der Universität in Kabul, postete auf Facebook, eine seiner Studentinnen habe ihm eine brutale Frage gestellt: «Wenn die Taliban uns aus unseren Häusern holen, uns vergewaltigen oder als Sexsklavinnen nehmen, wäre Suizid dann eine Option? Wird Gott das dann immer noch als unverzeihliche Sünde sehen?»
Eine andere Jugendliche aus Herat im Westen Afghanistans berichtete auf ihrem Blog über Diskussionen in ihrer Familie: «Mein Vater ist sehr konservativ. Er ist besorgt, die Taliban könnten in unser Haus kommen und meine junge Mutter und mich holen. Mein Vater sagt, in diesem Fall würde er uns selber töten, das sei das Beste für uns alle. Er hat seit einiger Zeit eine Pistole in der Schublade.» Ähnliche Geschichten gab es auf verschiedenen Medienportalen und sozialen Websites.
Ist das Schiff Afghanistan auseinandergebrochen, und ich spiele hier einfach nur mit Worten?
Ich habe zwei Schwestern im Teenageralter, 13 und 16 Jahre alt, die in Kabul leben. Sie müssen einige dieser Texte gelesen haben, denn eine der beiden schrieb mir: «Es gibt für uns keine Zukunft mehr. Gut, dass wenigstens du draussen bist.» Das war in der Nacht, als die Taliban Kabul einnahmen. Wir hatten ein langes Gespräch miteinander und ich tat mein Bestes, um die winzige Flamme der Hoffnung in ihr lebendig zu halten. Meine Eltern und Brüder sind mehr oder weniger in der gleichen Situation. Sie schlafen nicht und fühlen sich am Boden zerstört. Die Bilder, die die Afghanen momentan zu sehen bekommen, sind voll von den weissen Flaggen der Taliban, von obdachlosen Familien, die im Freien campen, leeren Strassen und einem Sturm von Männern und Frauen auf dem internationalen Flughafen.
Während ich dies in meiner sicheren Ecke in Delhi schreibe, frage ich mich: «Was tust du da eigentlich? Dein Land versinkt in Schmerz und Leid, und du schreibst immer noch?» Ja, ich schreibe, und ich empfinde Scham darüber, dass ich meinen Leuten nicht helfen kann in diesem existenziellen Moment. Ich empfinde Scham, dass ich an einem sicheren Ort bin und sie nicht. Mir fällt die Szene aus «Titanic» ein, in der das Schiff sinkt und Passagiere an Bord versuchen, sich zu retten, indem sie ins Wasser springen. In diesem Chaos beginnt der Geiger «Nearer My God to You» zu spielen. Ist das Schiff Afghanistan auseinandergebrochen, und ich spiele hier einfach nur mit Worten? Aber was kann ich sonst tun? Womöglich bin ich einfach überwältigt vom Stress und von den schockierenden Bildern und kann nicht mehr richtig denken und die Lage analysieren.
Das Wort «fallen» ist allgegenwärtig
In den letzten zwei Wochen habe ich ein Wort mehr als alle anderen gehört, gelesen und selbst verwendet und dabei allmählich seinen zerstörerischen Aspekt mitbekommen, mit all meinen Sinnen: das Wort «fallen». Hunderte Bezirke und mehr als dreissig Provinzen des Landes sind gefallen, eine nach der anderen, und ich konnte das Wort «fallen» im Raum herumschwirren sehen. Irgendwann bettelte ich geradezu, bitte nicht mehr «fallen», aber jeder und alles fiel so schnell, dass nichts es stoppen konnte. Als die Journalisten berichteten, Kabul sei gefallen, brach ich zusammen, im wörtlichen Sinn, und konnte mich einige Minuten lang nicht bewegen.
Gerüchte und Verschwörungstheorien haben sich so weit ausgebreitet, dass es fast unmöglich ist, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Es heisst, die Soldaten seien aus dem Dienst davongelaufen, sobald sie hörten, ihr Bezirk oder ihre Provinz sei gefallen. Einige sagen, Ashraf Ghani habe geplant, die Macht friedlich an die Taliban zu übergeben. Andere sagen, seine örtlichen Verbündeten hätten ihn verraten. Aber eins ist klar, mehr «fallen» können wir uns nicht leisten. Und wir werden wieder fallen, wenn wir glauben, wir sollten uns an die amerikanischen Flugzeuge klammern.
Vielleicht gibt es Licht am Ende des Tunnels, und wir müssen einfach weitergehen, auch wenn alles desolat wirkt. Das erinnert mich an die «Rückkehr des Königs», den letzten Teil der «Herr der Ringe»-Trilogie, wenn Frodo Beutlin den Ring in letzter Minute zerstört und die Welt rettet. Können wir den Ring noch in die Lava werfen und die gegenwärtige Tragödie zu einem glücklichen Ende bringen?
Jetzt merken wir, was für ein instabiles Kartenhaus die Regierung war.
Die Islamische Republik steckte tief in der Sickergrube der Korruption, das führte zu einer untragbaren Situation, die nicht weiter anhalten konnte. Seit vielen Jahren wussten wir über die nicht existenten Geisterlehrer in verschiedenen Provinzen, aber dann entdeckten wir Schritt für Schritt immer mehr Geisterschüler, Geisterschulen, Geisterkrankenhäuser, Geisterärzte, Geisterpatienten und – sehr gefährlich – Geistersoldaten. Man fragt sich jetzt, ob wir wirklich 350’000 Sicherheitskräfte hatten. Wie viele von ihnen existierten, wie viele gab es nur auf der Gehaltsliste? Wer kassierte die Gehälter und Boni all dieser Geistersoldaten? Die korrupten Beamten nutzten jede Gelegenheit, ihre Taschen zu füllen, und weiteten dieses Verhalten sogar auf den Sektor der Sicherheit aus. So nahmen sie das afghanische Volk als Geisel und missbrauchten die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft – die waren sicher nicht blind, aber tolerierten alles in der Hoffnung auf einige wirksame Reformen. Es war klar, dass uns das immer tiefer in eine Sackgasse führte. Die Geduld angesichts der Korruption war nicht grenzenlos, während die Gier keine Grenzen kannte und immer noch mehr wollte. Jetzt merken wir, was für ein instabiles Kartenhaus die Regierung war. Es fiel beim ersten Windstoss zusammen.
Man kann daraus sehr viele Lektionen lernen, aber jetzt haben wir erst einmal eine extrem diffizile Aufgabe zu lösen, während die Uhr aber tickt. Ein neues Kapitel der Geschichte Afghanistans beginnt, vielleicht können wir gemeinsam die besten Worte finden, um sie zu schreiben. Ich glaube, Afghanistan ist noch nicht verloren, unsere Bemühungen waren nicht nutzlos, und unsere Investitionen sind nicht umsonst gewesen. Unsere Infrastruktur steht noch, sie wurde diesmal nicht zerstört im Krieg, und bedeutender als die Häuser, Brücken und Strassen ist, dass die Generationen, denen ihr geholfen habt, in Freiheit heranzuwachsen, fest einstehen für ihre Rechte.
Eine positive Nachricht
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat keine Erinnerungen an das Taliban-Regime vor dem 11. September, sie hat Zugang zum Internet und zu den sozialen Medien. Ich, ein junger afghanischer Autor, werde immer dankbar bleiben. Viele Jahre hatte ich ein ruhiges Plätzchen in Kabul, in das ich mich verkroch, zum Lesen und Schreiben in einer Atmosphäre, die ihr geholfen habt zu schaffen. Wir werden das nicht vergessen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass die Taliban kein isoliertes Land regieren wollen. Das ist eine positive Nachricht. Die Taliban sagen offen, was für Beziehungen sie mit anderen Ländern haben möchten. Die internationale Gemeinschaft kann und sollte das als Köder nutzen und damit dafür sorgen, dass die Rechte der Frauen, Minderheiten und aller Bürger Afghanistans anerkannt werden. Diplomatischer Druck wird sehr wirksam sein, um ein neues, inklusives, transparentes, funktionierendes politisches System zu formen, das Frieden und Wohlstand auf mittlere und lange Sicht sichern kann für Afghanistan und die Welt.
Dies ist die eine letzte Hoffnung, über die die Afghanen in ihren Chatgroups und im virtuellen Austausch reden. Das ist die entscheidende Idee, über die ich mit meinen besorgten Familienmitgliedern und Freunden in Kabul spreche. Und es ist die einzige Perspektive, die die augenblickliche Panik ein wenig reduziert. Gemeinsam können wir Frodo Beutlin helfen, den Ring zu zerstören, und die gute Seite retten. Oder?
Übersetzt aus dem Englischen von Fritz Göttler.
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