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Interview zu Selbstdiagnosen
ADHS-Selbsttests im Internet – warum die Expertin davon abrät

«Für mich ist ADHS ein Spektrum der Neurodiversität, deren Ausprägung fliessend ist. Ich sehe ADHS nicht als eine Krankheit», sagt Jessica Bonhoeffer Templeton.

In den sozialen Medien – vor allem auf Tiktok – bezeichnen sich immer mehr Jugendliche als ADHS-Betroffene. Ob sie wirklich an der Entwicklungsstörung mit Symptomen wie Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität leiden, ist dabei oft nicht klar.

Frau Bonhoeffer Templeton, was halten Sie davon, wenn Jugendliche in den sozialen Medien als ADHS-Betroffene auftreten oder selbst Diagnosen stellen?

Es spricht überhaupt nichts dagegen, wenn Kinder und vor allem Jugendliche sich Gedanken machen, wieso ihnen vielleicht bestimmte Aufgaben besonders schwerfallen und ob sie ADHS haben könnten. Wenn sie schwerwiegende Probleme haben und darunter leiden, sollten sich die Kinder und Jugendlichen aber an eine Fachstelle oder an eine Ärztin oder einen Arzt wenden. Dort kann ADHS korrekt diagnostiziert und falls nötig eine Therapie eingeleitet werden. Möglich sind auch Massnahmen in der Schule: Betroffene bekommen zum Beispiel mehr Zeit für eine Klassenarbeit, wenn sie sich nur schlecht konzentrieren können. Und wenn Medikamente nötig sind, sollten medizinische Fachpersonen diese nur nach einer sorgsamen Diagnose verschreiben.

Was ist mit den Selbstdiagnosen von Jugendlichen?

Die sollte man ernst nehmen, sie reichen aber natürlich nicht. Die Jugendlichen können auch falschliegen. Dabei stützt sich aber ein Teil der offiziellen Diagnosestellung bei ADHS auf die Selbsteinschätzung durch einen Fragebogen. Das wird sehr hoch gewertet, um zu beurteilen, wie sich die Jugendlichen fühlen.

Wie sieht eine sorgsame ADHS-Abklärung aus?

Zunächst führen wir eine systematische Befragung durch – bei den Eltern und den Kindern. Dabei geht es um Probleme, aber auch um Ressourcen. Also: Was kann den Kindern helfen? Hinzu kommt immer auch eine Fremdbeurteilung von einer Lehrperson oder einer anderen Betreuungsperson durch ein Interview und Fragebögen. Wir erstellen dann ein Entwicklungsprofil, um zu sehen, wie weit das Kind ist. Dazu gehören zum Beispiel ein IQ-, ein Sprach- und ein Konzentrationstest, und auch die soziale und die emotionale Entwicklung beurteilen wir.

Und dann?

Wenn wir alle Resultate haben, können wir beurteilen, wo das Kind seine Stärken hat und ob es beispielsweise über- oder unterfordert ist. Das könnte auch zu den beschriebenen Symptomen beitragen. Oder ob das Verhalten des Kindes tatsächlich auf eine ADHS hindeutet.

Wann zeigen Kinder ADHS-Symptome, haben aber keine ADHS?

Typisch wäre ein Kind mit einer Legasthenie. Wenn dieses Kind unter Druck etwas schreiben oder lesen muss, kann es sein, dass es sich verweigert, sich ablenken lässt und unkonzentriert wird durch die erhebliche Anstrengung. Das Kind zeigt dann in dieser Situation das Bild einer ADHS – aber vor allem in der Situation, wo es um die Schwäche geht. Auch ein Kind, das feinmotorische Probleme hat, erschöpft schnell, wenn es länger etwas schreiben muss, fühlt sich überfordert und wird dann unkonzentriert. Darum ist es wichtig, das ganze Entwicklungsprofil eines Kindes anzuschauen.

Das klingt nach einer aufwendigen Diagnose. Gibt es trotzdem im Internet gute Selbsttests?

Nein, die kann ich nicht empfehlen. Die Selbsttests beruhen zwar auf den Diagnosekriterien und wie ausgeprägt sie vorkommen: Hyperaktivität, Impulsivität, Unaufmerksamkeit. Diese Tests können erst einmal eine Richtung anzeigen. Wenn Kinder oder Jugendliche sich selbst als extrem auffällig einstufen und sehen, dass vieles, was bei ADHS typisch ist, auf sie zutrifft, dann braucht es eine ausführliche Diagnostik. Denn es können auch andere Probleme hinter den Symptomen stecken: psychische Erkrankungen wie Angststörungen, ein schlechtes Selbstwertgefühl, eine Bindungsstörung oder eine depressive Verstimmung.

Ist es gut oder schlecht, wenn sich ADHS-Betroffene auf den sozialen Medien exponieren?

Wahrscheinlich beides. Einerseits ist es gut, dass ADHS nicht stigmatisiert wird und dass Gleichgesinnte sich gegenseitig stützen. Andererseits finde ich die Tendenz höchst fragwürdig, dass jeder und jede glaubt, einen Psychiater zu benötigen. Für mich ist ADHS ein Spektrum der Neurodiversität, deren Ausprägung fliessend ist. Ich sehe ADHS nicht als eine Krankheit. Die Betroffenen haben aber andere Bedürfnisse, eine andere Kreativität und Denkweise, und sie benötigen ein angepasstes Umfeld.

Demnach ist eine ADHS-Diagnose nicht eindeutig?

Nein, leider oft nicht. Das Bild ist heterogen. Es geht auch darum, wie die Individuen mit den Herausforderungen umgehen. Die Schwierigkeiten eines einzelnen Kindes oder Jugendlichen mit ADHS können komplett unterschiedlich sein im Vergleich zu anderen Betroffenen.

«Bei grossem Leidensdruck sind Medikamente sinnvoll.»

Was heisst das für die Therapie?

Wir schauen immer zuerst das Umfeld an und beurteilen anhand des Entwicklungsprofils, wo das Kind steht. Dann überlegen wir, welche Hilfestellung das Umfeld dem Kind geben kann. Dabei ist es wichtig, auch die Eltern zu schulen. Sie können helfen, den Tag ihres Kindes zu strukturieren, etwa durch Checklisten, oder dass das Kind keine Reizüberforderung hat, wenn das im Vordergrund steht, oder dass es genügend Bewegung hat. Je jünger die Kinder sind, desto wichtiger sind solche Strukturen im Alltag. Älteren Kindern kann zum Beispiel eine Verhaltenstherapie helfen. Sie lernen dann – auf spielerische Art –, sich selbst zu organisieren.

Und was ist mit Medikamenten?

Erst wenn die anderen Therapien nicht funktionieren oder ein grosser Leidensdruck da ist, sind Medikamente sinnvoll. Sie dürfen aber nicht die einzige Therapiemassnahme sein. Gerade längerfristig ist es extrem wichtig, dass die Betroffenen lernen, mit ihren Herausforderungen umzugehen und nicht nur Tabletten zu schlucken. Richtig dosiert helfen die Medikamente zuverlässig und meistens sofort. Wenn sie nicht wirken, dann stellt sich die Frage, ob das Kind wirklich ADHS hat. Dann lohnt es sich, noch mal genau hinzuschauen.

Haben schon kleine Kinder ADHS?

Ja, dann ist ADHS aber schwer zu erkennen und eine Diagnose noch nicht möglich. Kleine Kinder sind häufig «hyperaktiv». Der Bewegungsdrang nimmt generell bis zum Alter von acht oder neun Jahren zu und wird dann weniger. Da ist dann die Frage, ob das Kind seine Energie ausleben kann, auf dem Spielplatz, beim Sport. Es geht den Kindern besser, die das können – mit oder ohne ADHS. Im Rückblick wird aber den meisten Betroffenen klar, dass sie bereits als kleine Kinder Symptome hatten.

Wie häufig ist es, dass Kinder und Eltern betroffen sind?

Das ist fast immer der Fall. Oft merken die Eltern erst bei der Diagnose ihrer Kinder, dass sie ähnliche Symptome haben. Ich empfehle ihnen dann, sich ebenfalls abklären zu lassen. Ich denke, es ist ein Teil des Problems, wenn auch die Eltern diese Verhaltensmerkmale haben. Das macht den Umgang mit dem Kind sehr viel schwieriger für die Eltern. Und hinzu kommt, dass sie ihre Verhaltensmuster an die Kinder weitergeben.

ADHS wächst sich also nicht aus?

Bei vielen nicht. Es gibt aber einen grossen Anteil an betroffenen Erwachsenen, die gut damit zurechtkommen. Die Symptome verändern sich über die Zeit. Zum Beispiel nimmt die Hyperaktivität bei den Erwachsenen ab. Die haben dann eher eine innere Anspannung. Das sieht man zum Beispiel, wenn sie mit den Beinen wippen oder an den Fingern knibbeln. Oder daran, wie sie Aufgaben aufschieben oder fünf Sachen gleichzeitig beginnen, aber nichts fertig bekommen. Andere Betroffene wissen, was sie brauchen, und haben gelernt, sich zu organisieren.

Zieht sich ADHS also durch ganze Familien?

Ja, und da sehe ich den Ansatz, dass wir die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen schulen, bevor sie selbst Kinder bekommen. Die Betroffenen können lernen, sich zu organisieren oder mit ihrer Impulsivität und ihren Bedürfnissen umzugehen und wo nötig Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie könnten ihre Energie und Kreativität zu etwas Positivem umlenken und möglicherweise später ihren Kindern klarere Strukturen geben.