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Meinung

Leitartikel zu Schweiz und Ukraine
Abwiegeln, aussitzen, einknicken, auslöffeln

Bundespräsident Alain Berset im Gespräch mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz am 18. April 2023 in Berlin.
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Was man erreichen kann, wenn man als Gruppe gemeinsam die Initiative ergreift, haben diese Tage acht Männer unter Beweis gestellt. Acht ausländische Botschafter, die in der Schweiz stationiert sind, haben einen angriffig-provokanten Brief an den Bundesrat geschrieben. Und darin kritisiert, dass sich Bern im Kampf gegen Wladimir Putins Russland zu widerborstig zeige.

Der Brief übertreibt manches, und vielleicht waren sich die G-7-Staaten und die EU auch nicht überall einig, aber ihre Vertreter setzten gemeinsam ihre Unterschriften unter sechs Textabsätze. Die Nachricht erreichte ihren Zweck: Die Schweiz horchte auf.

Was passiert, wenn man als Gruppe stattdessen zaudert, haben sieben Frauen und Männer bewiesen, an die der Brief adressiert war: der Bundesrat.

Wegschauen als Kunstform

Seit im Februar 2022 russische Truppen die ukrainische Grenze überquert haben, kommt die Schweiz international regelmässig unter Druck. Die Kritik konzentriert sich auf zwei Themen: dass Bern bei den internationalen Sanktionen nicht motiviert genug mitziehe; und dass die Schweiz Waffen nicht freigebe, die andere Länder an die Ukraine liefern wollten.

Dabei bietet die Schweiz eigentlich gar nicht so viel Angriffsfläche.

Die Sanktionen der USA und der EU trägt das Land mit. Und die geblockten Waffenlieferungen sind Kleinigkeiten gemessen am Kriegsmaterial, das jeden Tag aus dem Westen an die Ukraine geht. Die 12’400 Schweizer Schuss für Gepard-Panzer, die Deutschland an die Ukraine weitergeben will, sind nicht kriegsentscheidend.

Olaf Scholz besucht das Trainingsprogramm für ukrainische Soldaten mit den deutschen Gepard-Panzern in der Nähe von Oldenburg.

Trotzdem sieht sich die Schweiz an den Pranger gestellt. Weil sie mit ihrer Geschichte erstens ein leichtes Ziel abgibt. Weil sie es zweitens Kritikern zu einfach macht. Und weil ihre Regierung drittens nicht weiss, was sie will – sondern vor allem, was sie nicht will.

Bei den Sanktionen ist die Schweiz zu leicht angreifbar. Das Problem sind nicht die Banken, die heute streng reguliert sind. Das Problem sind Anwälte und Treuhänder. Und zwar jene, die für heikle Figuren – Politiker, Oligarchen, Scheichs – intransparente Finanzgeflechte weben, mit Briefkastenfirmen irgendwo in einem Tiefsteuerkanton oder in der Karibik.

Wieder und wieder fliegen Fälle von sanktionierten Oligarchen auf, an welchen Schweizer Akteure beteiligt waren. Die Hinweise kommen jeweils von aussen. Es wirkt, als wollten die Schweizer Behörden gar nicht so genau wissen, wer da für wen Millionen bunkert.

Dazu gehören Politiker, welche das Wegschauen zur Kunstform erhoben haben. Wie zum Beispiel der Zuger Finanzdirektor Heinz Tännler (SVP), der nach Ausbruch des Kriegs zu SRF sagte: «Ich muss nicht recherchieren und wie ein Detektiv nachforschen.»

Dies sind Überreste der alten Bankgeheimnis-Mentalität, und es ist absehbar, dass diese bald getilgt werden, entweder durch selbst verhängte Geldwäsche-Regeln oder durch Druck aus dem Ausland.

Statt einmal mehr ein Rückzugsgefecht zu führen und vom Ausland als Geldverstecker hingestellt zu werden, könnte man auch hinstehen und sagen: Wir haben uns auf die Sanktionen verpflichtet. Wir wollen wissen, was bei uns läuft. Und wenn wir was finden, kümmern wir uns drum.

Die Neutralität des 21. Jahrhunderts

Niemand fordert von der Schweiz, ihre Neutralität aufzugeben, nicht die EU, nicht die G-7 und auch nicht die Nato. Man versteht im Ausland vielmehr nicht, wie die Schweiz ihre Neutralität im 21. Jahrhundert leben will. Etwa, nach welchen Kriterien Bern Waffenexporte freigibt. Katar ja, Ukraine nein? Ratlosigkeit allenthalben.

Ignazio Cassis mit Wolodimir Selenski im Oktober 2022 in Kiew.

Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) startete einen Versuch, die Schweiz unter dem Titel einer «kooperativen Neutralität» neu zu positionieren – der Bundesrat liess ihn auflaufen. Es soll bei der alten Neutralitätsdoktrin bleiben, die aus den frühen 90er-Jahren stammt.

Dabei ist die Stimmung in der Bevölkerung gemäss Umfragen recht klar: Ja, die Schweiz soll zwar neutral bleiben. Aber Putin ist ein Völkerrecht brechender Aggressor, der die demokratische Ordnung zerschiessen will. Die Ukraine ist das Opfer, und ihrer Bevölkerung muss geholfen werden. Auch weil es um die Zukunft eines freien Europa geht. Und wenn für diesen Kampf Waffen nötig sind, die ursprünglich aus der Schweiz stammen, dann geht das in Ordnung.

Mit anderen Worten: Die Mehrheit will, dass die Politik die Neutralität neu interpretiert. Ins 21. Jahrhundert überführt.

Der verspielte Kredit

Bislang gibt es für das Volk keine Gelegenheit, sich dazu zu äussern, dafür arbeitet die direkte Demokratie zu langsam. Am Zug ist die Regierung. Aber von Aussenminister Cassis, der sich selbst mehrfach als Freund des ukrainischen Präsidenten Selenski inszeniert hat, ist seit seiner Niederlage nichts mehr zu hören. Auch eine Allianz mit Viola Amherd (Mitte) ist nicht erkennbar – obwohl diese am stärksten darauf drängt, bei den Waffenlieferungen grosszügiger zu sein.

Bleibt Guy Parmelin. Als Wirtschaftsminister muss ihm die Schweizer Rüstungsindustrie Sorgen machen, die aufgrund der geblockten Waffen-Weitergaben in Schwierigkeiten geraten kann. Aber von Parmelin kommen zu diesem Thema keine Vorschläge. Und auch beim Umsetzen der Sanktionen bremst der SVP-Vertreter.

Der Ukraine-Krieg und seine Folgen sind ein Querschnittproblem, das die ganze Regierung betrifft. Der Bundesrat müsste sich im Team zu einer gemeinsamen Vorwärtsstrategie durchringen. Aber eine solche ist bislang – trotz Klausursitzungen – nicht erkennbar.

Stattdessen wartet man ab. Beobachtet. Reagiert überhastet, wenn die nächste Kritikwelle aufschlägt. Und verspielt dabei politischen Kredit.

Einziger Ausweg ist bislang, Geld zu versprechen. So, wie es Ignazio Cassis letzte Woche in den USA wieder tat. Milliardensummen würden in den Wiederaufbau der Ukraine fliessen, sagte der Aussenminister in Washington.

Die Schweiz will also helfen, in Kiew oder Charkiw Strassen, Schulen und Spitäler wieder aufzubauen. Vielleicht könnte man auch einen Gedanken darauf verwenden, ob die Schweiz (indirekt!) dabei helfen könnte, dass ukrainische Städte gar nicht erst zerbombt werden. 

Aber dazu müsste man die Initiative ergreifen.