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«Lebensschützer» vs. Feministinnen
Deutschland droht ein neuer Kampf um die Abtreibung

 Münchner Marsch fürs Leben, Kundgebung und Marsch von AbtreibungsgegnerInnen, startet und endet am Königsplatz, 19. März 2022 Deutschland, München, 19.03.2022, Münchner Marsch fürs Leben, Demonstration von Abtreibungsgegnern und Abtreibungsgegnerinnen, Lebensschützer, wollen den Wert des menschlichen Lebens betonen, pro life, gegen Abtreibung, Schwangerschaftsabbrüche, Sterbehilfe, viele kirchliche Teilnehmer, vor allem aus der katholischen Kirche, Kundgebung ab 13 Uhr, danach Marsch durch angrenzende Straßen, startet und endet am Königsplatz, Demoplakat Mutter werden mehr Frau sein geht nicht, Teilnehmer hier auf der Brienner Strasse, die verwendeten Farben blau und gelb beziehen sich nicht auf die Ukrainekrise, Protest, protest
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30 Jahre danach ist der Kompromiss von einst vielen Frauen zur Zumutung geworden. «Der Schwangerschaftsabbruch gehört nicht ins Strafgesetzbuch», meint die deutsche Familienministerin Lisa Paus. Für Grüne wie sie gehört das Recht auf Abtreibung so sehr zur DNA ihrer Partei wie der Kampf gegen die Atomkraft.

Seit Frankreichs Parlament beschlossen hat, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung zu garantieren, nimmt die Debatte auch in Deutschland Fahrt auf: Diesmal soll die Abtreibung aber nicht liberalisiert, sondern legalisiert werden.

Wie in der Schweiz ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland formell nämlich immer noch verboten. Seit 1871 figuriert er im Strafgesetzbuch in Artikel 218, nur wenige Abschnitte entfernt von anderen «Straftaten gegen das Leben» wie «Mord» und «Totschlag».

Um Frauen das Recht auf Abtreibung dennoch zuzugestehen, einigte sich Deutschland nach heftigen Auseinandersetzungen 1995 auf eine Fristen- oder Beratungslösung – die Schweiz folgte 2002 mit einem vergleichbaren Modell. Ein Abbruch bleibt seither grundsätzlich straflos, wenn er bis zur 12. Schwangerschaftswoche vorgenommen wird und die Frau zuvor eine Beratung und eine dreitägige Wartefrist absolviert hat.

Zweimal, 1975 und 1993, hatte das Bundesverfassungsgericht zuvor liberalere Vorschläge abgelehnt. Der Schutz ungeborenen Lebens könne nicht einfach aufgehoben werden, so die Richter, die Abtreibung bleibe grundsätzlich «Unrecht» und müsse verboten bleiben. Dieses Urteil gilt bis heute.

Die Fristenlösung bleibe «ein feiger Kompromiss»

Drei Jahrzehnte später halten nicht nur Feministinnen, sondern auch viele Expertinnen die Zeit für reif, einen Schritt weiter zu gehen. Die Fristenlösung bleibe ein «feiger Kompromiss», meint etwa die Buchautorin Laura Dornheim, und schade Frauen. Aus medizinischer Sicht fördert die Kriminalisierung jedenfalls die Schuldgefühle abtreibungswilliger Frauen. Die Beratungs- und Wartepflicht traumatisiere sie zusätzlich, statt ihnen zu helfen.

Vor allem hat die fortdauernde Strafbarkeit aber die Versorgung stark verschlechtert: Die Zahl von Einrichtungen, die in Deutschland Abtreibungen vornehmen, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten halbiert. Viele der einstigen «Pionierinnen» sind pensioniert, Nachwuchs fehlt. In ländlichen Gebieten müssen Schwangere schon heute Hunderte Kilometer zu einer Abtreibung fahren – jede Zehnte reist dafür sogar in die Niederlande. Dabei steigt die Zahl der Abbrüche seit 2017 wieder: 104’000 waren es 2022, proportional ähnlich viele wie in der Schweiz.

In der aktuellen Regierung drängen vor allem die Grünen und Teile der Sozialdemokraten auf eine Abschaffung von Artikel 218, die Liberalen dagegen bremsen. Die Koalition hat eine Kommission eingesetzt, die im April Empfehlungen vorlegen soll. Die Strafbarkeit könnte danach abgeschafft oder weiter gelockert werden, die Abtreibung zudem von den Krankenkassen bezahlt werden – wie in der Schweiz.

Die Abtreibung taugt bestens zum Kulturkampf

Mit den Forderungen wachsen aber auch die Sorgen. Kaum ein gesellschaftspolitisches Thema polarisiert so wie die Abtreibung. Von beiden Seiten wird derzeit an alten Kompromissen gerüttelt: In den USA oder in Polen wird das Recht gerade wieder eingeschränkt, in Frankreich dagegen garantiert – auch als Vorsichtsmassnahme gegen künftige Restriktionen.

Manche deutsche Befürworterinnen fürchten, die Abschaffung von Artikel 218 könnte den fragilen Frieden gefährden, den die Fristenlösung begründet hat. Ulla Schmidt, eine ehemalige Gesundheitsministerin der SPD, sagte dem «Spiegel», sie wünsche sich die Kämpfe der 1990er-Jahre jedenfalls nicht zurück: «Insbesondere heute, in dieser aufgeheizten Zeit, dazu die sozialen Medien. Ich glaube, die Debatte könnte noch zerstörerischer werden als beim letzten Mal.»

Die christlichen Kirchen, die das Recht auf Abtreibung stets bekämpften, haben zwar an Autorität verloren, dafür erscheinen neue laute Akteure wie die AfD, die das Recht wieder einschränken wollen. In einer ZDF-Umfrage traten zuletzt 54 Prozent gegen eine Abschaffung von Artikel 218 ein. Bei den Wählerinnen und Wählern der Christdemokraten waren sogar 67 Prozent dagegen, eine Mehrheit dafür gab es nur bei Grünen und Linken.

Viele Befürworterinnen befürchten, das Verfassungsgericht würde eine Liberalisierung erneut ablehnen. Sicher sei das aber nicht, meinen Beobachter, die Zeiten hätten sich geändert. Schon 1975 hatte sich die damals einzige Richterin gegen das Urteil gewandt. Der Senat, der heute darüber entscheiden würde, ist fest in Frauenhand: Fünf Frauen stehen drei Männern gegenüber.