Leitartikel zu Abstimmung in ZürichChaoten härter angehen? Ja, aber nicht zu diesem Preis
Mit einer Annahme der Anti-Chaoten-Vorlage würden gewalttätige Demoteilnehmende härter bestraft. Die damit verbundenen Einschränkungen gehen zu weit.
Wer politische Anliegen auf die Strasse trägt, indem er oder sie sich Scharmützel mit der Polizei liefert oder Schaufenster einschlägt, erreicht vor allem eines: eine breite Ablehnung in der Gesellschaft. Wegen diverser gewalttätiger Auseinandersetzungen kommen am 3. März zwei weitreichende Vorlagen zur Abstimmung.
Die Anti-Chaoten-Initiative und ihr Gegenvorschlag lassen sich gut verkaufen: Chaoten gehören bestraft. Die Forderung ist so simpel wie richtig. Die harte Hand gibt es allerdings nur zu einem hohen Preis.
Beide Vorlagen sind mit einer Bewilligungspflicht für sämtliche Demonstrationen verbunden. Wer trotzdem eine Demo ohne Bewilligung organisiert oder an einer solchen teilnimmt, soll gemäss Initiative die entstandenen Polizeikosten und allfällige Sachbeschädigungen bezahlen müssen. Beim weniger scharfen Gegenvorschlag würden lediglich die Polizeikosten verrechnet, und dies nur, wenn die verursachenden Personen «vorsätzlich» gehandelt haben. Für Organisatoren und Teilnehmende beispielsweise eines bewilligten 1.-Mai-Umzugs würde sich bei beiden Varianten nichts ändern.
Das klingt zunächst gut, klingt gerecht. Gut und gerecht ist aber auch die heutige Gesetzeslage. Und vor allem ist sie ausreichend. Dies aus drei Gründen:
Der Kanton muss der Stadt nicht hineinreden
Die Kosten für ausserordentliche Polizeieinsätze können schon heute auf die Verursacher überwälzt werden. Sie müssen aber nicht. Insbesondere die Stadt Zürich, die mit Abstand die meisten unbewilligten Demonstrationen duldet, treibt kein Geld von Demonstrierenden ein. Nach Ansicht des Stadtrats gehört es zum Grundauftrag der Stadtpolizei, die Sicherheit bei politischen Kundgebungen zu gewährleisten. Gleiches gilt für die Räumung von Hausbesetzungen, deren Kosten die Initiative ebenfalls überwälzen will.
An dieser demofreundlichen Praxis stören sich bürgerliche Kräfte, die in der Stadt Zürich aber wenig zu melden haben. Die Initiative ist ihr Versuch, die Stadt mit einer kantonalen Regelung zu übersteuern. Die von einer linken Bevölkerungsmehrheit gewählte Stadtregierung fällt mit ihrer Praxis aber weder dem Kanton noch einer anderen Gemeinde zur Last. Sie tut es auf eigene Rechnung. Darum gibt es keinen Anlass, die Gemeindeautonomie zu beschneiden.
Vor drei Jahren diskutierte der Zürcher Kantonsrat schon einmal die Kostenüberwälzung für Chaoten. Eine solche forderte damals eine parlamentarische Initiative, worauf die Regierung entgegnete, die bestehenden Regelungen seien ausreichend. Nun, da die vorliegende Volksinitiative eine Mehrheit finden könnte, hat der Regierungsrat selbst einen Gegenvorschlag beantragt. Er liest sich fast identisch mit dem Vorstoss, welchen der Regierungsrat einst als unnötig taxierte.
Der finanzielle Nutzen ist unklar
Eine zwingende, konsequente Kostenüberwälzung wäre mit einem Mehraufwand der Polizei und der Justiz verbunden, ohne dass klar ist, wie viel Geld am Ende eingefordert werden kann. Wer Sachbeschädigung begeht, muss schon heute dafür geradestehen – vorausgesetzt, man erwischt die Verantwortlichen. Letzteres gestaltet sich gerade bei vermummten Krawallanten schwierig. Daran wird die Initiative nichts ändern. Diese Kosten stattdessen anderen, friedlichen Demoteilnehmenden aufzubürden, wäre eine unzulässige Kollektivstrafe.
Sollte der Gegenvorschlag angenommen werden, will der Sicherheitsdirektor Mario Fehr deshalb die Kosten für ausserordentliche Polizeieinsätze den Verursachenden «anteilsmässig nach Massgabe ihres konkreten Beitrags» auferlegen. Was das bedeutet, zeigt der Präzedenzfall von Rümlang: 14 Personen, die im vergangenen April ein Waldstück besetzten, wurden Kosten von je 800 bis 5000 Franken auferlegt. Gegen die 14 Verfügungen sind 12 Rekurse eingegangen, sie werden das Justizwesen also weiter beschäftigen. Für die Staatskasse sind die eingeforderten Summen unbedeutend, der Grosseinsatz der Polizei dürfte deutlich mehr gekostet haben. Wie viel, ist nicht bekannt.
Einen Vergleichswert bietet die Stadt Bern: Dort mussten nach einer ausgearteten Corona-Demo 14 gewalttätige Demonstranten insgesamt (und nicht je) 4000 bis 5000 Franken bezahlen. Angesichts der Polizeikosten von rund 200’000 Franken ist der Betrag verschwindend klein.
Es betrifft viel mehr als nur die Chaoten
Die Versammlungsfreiheit ist ein Fundament der demokratischen Gesellschaft. Dazu gehört, dass friedliche Proteste möglich sind, ohne dass vorher eine – wie auch immer geartete – Behörde ihre Zusage gibt. Die beiden Vorlagen zielen oberflächlich zwar auf Gewalttäter ab. Faktisch aber würden sie jegliche spontanen und unbewilligten Demonstrationen kriminalisieren, obwohl diese grundrechtlich geschützt sind.
Die Angst vor finanziellen Folgen würde wahrscheinlich mehr friedliche Aktivistinnen als gewaltbereite Chaoten davon abhalten, ihre Meinung auf der Strasse kundzutun. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kommt zum Schluss, dass die Vorlagen gegen Völker- und Verfassungsrecht verstossen und die Demonstrationsfreiheit gefährden.
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