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Gedenkfeier in Auschwitz
«Ich dachte, wenn du ein jüdisches Kind bist, dann musst du eben sterben»

Holocaust-Überlebende nehmen an der 80. Gedenkfeier zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau in Oswiecim, Polen, teil.
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In Kürze:
  • Holocaustüberlebende mahnen zum 80. Jahrestag zur Wachsamkeit gegenüber Extremismus.
  • Juden weltweit fühlten sich zunehmend bedroht, sagt der New Yorker Ronald Lauder.
  • Prominente Staatsgäste waren am Gedenkanlass anwesend, aber es sprachen vor allem Überlebende.
  • Nur noch 56 Zeitzeugen nehmen in diesem Jahr am Gedenkakt teil, vor zehn Jahren waren es noch etwa 200.

«Es ist nicht alles in Ordnung», sagt der 80-jährige Ronald S. Lauder am Gedenkort Auschwitz-Birkenau. Der Zustand der westlichen Demokratien sei nicht gut. Er könne an diesem 27. Januar, 80 Jahre nach der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, nicht so viel Hoffnung verbreiten wie vielleicht früher.

Juden seien bedroht wie nie, sagt der New Yorker Unternehmer, der mit seiner Stiftung viel zur Erhaltung von Auschwitz-Birkenau als Gedenkort beigetragen hat. Und wo Juden bedroht seien, seien bald auch andere in Gefahr.

Die Juden, sagt Lauder, seien der Kanarienvogel im Bergwerk, dessen Tod die Bergarbeiter warne, rasch die Mine zu verlassen. «Dieser Kanarienvogel starb vor 15 Monaten.»

Überlebende auf der Bühne

Der 7. Oktober 2023 ist aus Sicht einiger Redner von diesem 27. Januar 2025 nicht zu trennen. Hamas-Terroristen überfielen an diesem Tag israelische Dörfer und Festivalbesucher, ermordeten auf brutale Weise mehr als 1200 Menschen und nahmen Geiseln, von denen noch immer nicht alle frei sind und von denen viele später noch getötet wurden.

Dieser Angriff, sagt Lauder, habe allgemein den jüdisch-christlichen Werten und der Demokratie gegolten, das Ziel sei «der Tod der westlichen Zivilisation».

Warnungen vor rasant wachsendem Extremismus, dringliche Aufforderungen vor allem an die Jüngeren – die Social-Media-Generationen –, sich Rassismus und Hassrede entgegenzustellen, Lügen zu entlarven, Verschwörungserzählungen nicht zu verbreiten, ziehen sich durch die Reden an diesem Gedenktag. Es sprechen bis auf Ronald Lauder und den Leiter der Gedenkstätte Piotr Cywiński nur Überlebende.

Der Holocaust auf Tiktok

«Hi!», sagt Tova Friedman zur Begrüssung zu den 2500 Gästen, die aus aller Welt zur Gedenkfeier gekommen sind. Die 86-Jährige ist dank ihres Enkels eine erfolgreiche Tiktokerin. Sie schafft es in dem Miniformat, das von Teenagern geliebt und auch von extremistischen Kräften ausgenutzt wird, vom Holocaust zu erzählen.

Zum Beispiel davon, wie ihr als Fünfjähriger eine junge Häftlingsfrau im Konzentrationslager Auschwitz mit zitternden Händen die Nummer 27’633 eintätowieren musste. Sie solle sich die Nummer gut einprägen: «Du hast jetzt keinen Namen mehr.» Aber das Kind, das damals noch Tola Grossman hiess, kannte noch keine Zahlen.

Tova Friedman hält eine Rede bei einer Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen Konzentrationslagers KL Auschwitz-Birkenau vor dem historischen Tor in Brzezinka, Polen.

Den 27. Januar feiere sie stets als ihren Geburtstag, erzählt Tova Friedman nun. Sechseinhalb Jahre war sie alt, als die Sowjets die Lagertore öffneten, die SS-Leute waren bereits geflohen. Als Kind sah Tova Friedman, wie andere Kinder in die Gaskammer gebracht wurden. «Ich dachte, wenn du ein jüdisches Kind bist, dann musst du eben sterben.» Dabei habe sie gar nicht richtig gewusst, was Jüdischsein bedeute.

Nicht nur erinnern, auch warnen

«Die Welt befindet sich wieder in einer Krise», sagt Friedman, die 1950 mit ihren Eltern, die beide überlebt hatten, aus Polen in die USA ausgewandert war. Friedman studierte dort Psychologie. «Unsere Pflicht ist es nicht nur, zu erinnern.» Sondern auch zu warnen und Wissen zu vermitteln. «Hass schafft mehr Hass», sagt Friedman, «und Töten mehr Töten.»

Überraschend ist auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, der selbst jüdische Wurzeln hat, zum Gedenken angereist. Neben ihm sitzen der britische König Charles und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj bei der 80. Jubiläumsfeier der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau in Oswiecim, Polen, am 27. Januar 2025.

Der französische Präsident Emmanuel Macron ist anwesend, der polnische Präsident Andrzej Duda und Ministerpräsident Donald Tusk. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz und weitere deutsche Vertreter von Regierung, Bundestag und Bundesrat, darunter Wirtschaftsminister Robert Habeck. Aus der Schweiz nahm Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter am Gedenkanlass teil.

Die Staatsgäste dürfen jedoch nur zuhören. Dem 98-jährigen Marian Turski, dem Präsidenten des Internationalen Auschwitz-Komitees. Dem 99-jährigen Leon Weintraub und Janina Iwańska, geboren 1930 in Warschau. Alle vier Zeitzeugen, die zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz sprechen, stammen aus Polen.

Die letzten Zeitzeugen

Für die Gedenkfeier wurde das aus Ziegelsteinen errichtete Tor, durch das die Güterzüge ins Vernichtungslager Birkenau einfuhren, mit einem Zelt überbaut, ein historischer Güterwaggon wurde ebenfalls unter das Zelt geschoben.

Nur noch 56 Zeitzeugen nehmen in diesem Jahr am Gedenkakt teil, vor zehn Jahren waren es noch etwa 200. Dafür sind umso mehr Gäste gekommen. Wohl im Bewusstsein dessen, dass es am nächsten runden Gedenktag niemanden mehr geben wird, der noch aus der Perspektive eines Erwachsenen von den Leiden im Lager und den Erfahrungen unter deutscher Besatzung berichten kann.

Meist erzählen nun jene Zeitzeugen, die als Kinder und Jugendliche den Holocaust, die Ghettos, die Konzentrations- und Vernichtungslager überlebten, welche die Deutschen errichtet hatten.

Allein in Auschwitz ermordeten deutsche und österreichische Nationalsozialisten mehr als 1,1 Million Menschen, vor allem Juden sowie Sinti und Roma. Unter den Menschen, die nach Auschwitz deportiert wurden, waren etwa 232’000 Kinder. Als die sowjetischen Soldaten am 27. Januar 1945 das Lager, aus dem die SS-Leute bereits geflohen waren, befreiten, fanden sie noch etwa 7000 Menschen vor, ungefähr 450 von ihnen waren unter 15 Jahre alt.

Von der Familie getrennt

Janina Iwańska gehört zu den Menschen, die die Deutschen bei ihren Vergeltungsmorden nach dem Beginn des Warschauer Aufstands am 1. August 1944 am Leben liessen. Besonders der Stadtteil, in dem die damals 14-Jährige mit ihren Eltern wohnte, Warschau-Wola, steht heute für das Massaker, das deutsche Einheiten an Zehntausenden Polinnen und Polen verübten.

Iwańska wurde ins Durchgangslager Pruszkow und weiter nach Auschwitz verschleppt und von ihrer Familie getrennt. Erst im Mai 1945 wurde sie in Neustadt-Glewe befreit, in Warschau fand sie ihre Familie wieder. Später studierte sie Pharmazie und lebt bis heute in Warschau.

Polnischer Historiker und Holocaust-Überlebender Marian Turski spricht bei einer Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Zuhörer bestehend aus Staatsoberhäuptern und Vertretern sitzen im Hintergrund, Oswiecim, Polen.

Marian Turski war 14 Jahre alt, als die Deutschen ihn und seine Familie 1940 ins Ghetto Litzmannstadt zwangen, als 18-Jähriger kam Turski nach Auschwitz, später wurde er nach Buchenwald und Theresienstadt verschleppt, wo er im Mai 1945 befreit wurde. Turski begann nach dem Krieg, als Journalist zu arbeiten, und ist bis heute ein aktiver Publizist, der sich regelmässig zu aktuellen politischen Themen zu Wort meldet.

Benjamin Netanyahu fehlt am Anlass

Auch Leon Weintraub, geboren 1926 in Łódź, musste mit seiner Familie ins Ghetto Litzmannstadt ziehen, überlebte die Liquidierung des Ghettos im Versteck, kam im August 1944 doch nach Auschwitz, schloss sich aber unbemerkt einem Arbeitskommando an, wodurch er dem Tod in der Gaskammer entkam. Er wurde in mehrere weitere Lager verschleppt und erlebte schliesslich die Befreiung durch französische Alliierte. Später emigrierte er nach Schweden.

Der 7. Oktober 2023 und seine Folgen beschäftigten nicht nur die Redner dieser Gedenkfeier. Sondern auch die Organisatoren und die polnische Politik. Nicht unter den Gästen war nämlich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu.

Der polnische Präsident Andrzej Duda hatte kürzlich die Regierung von Donald Tusk praktisch gezwungen, zu erklären, dass Netanyahu unbehelligt an der Gedenkfeier teilnehmen könne – gegen Netanyahu liegt ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes vor, an den auch Polen gebunden wäre.

Den Haag wirft Netanyahu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazakrieg vor. Er müsste festgenommen werden. Israel wurde durch Bildungsminister Yoav Kisch vertreten. Die USA werden von Steve Witkoff, dem Sonderbeauftragten für den Nahen Osten, repräsentiert. Keine Delegation gab es aus Russland.