Entscheidung im Nationalrat 110’000 Patienten bekommen Cannabis bald legal
Neu erhalten Kranke ihren Medizinalcannabis unkompliziert vom Bund statt auf dem Schwarzmarkt. Wer bezahlt das, wo lauern Risiken? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Die Innerschweizerin Dolores Keller nahm 30 Jahre lang Schmerzmittel und Antirheumatika – gegen ihre starken Arthroseschmerzen haben diese Medikamente aber nur wenig geholfen. Dann entdeckte Frau Keller Cannabis, vom Arzt via eine Sondergenehmigung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) verschrieben. Gegenüber der Rheumaliga Schweiz versuchte sie ihre Erfahrungen in Worte zu fassen: «Es ist schwer zu beschreiben, ich kann nur sagen, dass ich die Schmerzen dank Cannabis viel besser ertrage. Ich kann sie wegstecken und aktiv sein, rausgehen, mich bewegen.»
Die 71-jährige Rentnerin konnte die Schmerzmittel absetzen, Nebenwirkung durch das Cannabisprodukt hat sie keine. Wie bei anderen Medikamenten auch habe es aber etwas Zeit gebraucht, die ideale Dosis herauszufinden. Doch seit sie diese gefunden habe, halte sie sich pedantisch genau daran, sagt Keller: «Ein Tropfen weniger, und ich habe keine Wirkung; ein Tropfen mehr, und ich bekomme einen Rausch, was ich gar nicht mag.»
Künftig sollen Patientinnen und Patienten wie Frau Keller einfacher zu Therapien auf Cannabisbasis kommen. Der aufwendige Weg über das BAG soll wegfallen. Diese Bewilligungspraxis sei nicht mehr zweckmässig und erschwere den Zugang zu dieser Behandlung, ist der Bundesrat überzeugt. Er hat deshalb eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes erarbeitet, die es Ärzten erlauben soll, Cannabisprodukte direkt zu verschreiben. Jetzt hat die Gesetzesänderung die erste Hürde genommen, und dies sehr deutlich: Der Nationalrat stimmt am Dienstagmorgen mit 143 zu 33 Stimmen bei 15 Enthaltungen der Vorlage zu.
Wie viele Leute setzen Cannabis zu medizinischen Zwecken ein?
In den letzten Jahren deckten sich jeweils etwas über 3000 Schweizer Patienten legal mit Cannabispräparaten ein. Dies entspricht jedoch nur einem Bruchteil derjenigen, die Hanf zur Linderung verschiedenster Gebrechen auch tatsächlich einsetzen. Der Weg über eine Ausnahmebewilligung, die bisher nur das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erteilen kann, ist kompliziert, die Produkte sind teuer. Viele besorgen sich deshalb Cannabis illegal. Gemäss Schätzungen des BAG sind dies bis zu 111’000 Patienten.
Wie teuer ist eine solche Behandlung?
Patientinnen und Patienten zahlen für den Einsatz von legalem Medizinalcannabis im Monat bis zu mehrere Hundert Franken. Die Krankenkassen zahlen nur in der Hälfte aller Fälle etwas an die Therapie. Auf dem Schwarzmarkt ist Cannabis wesentlich billiger, durchschnittlich 10 Franken pro Gramm. Das Problem: Der berauschende THC-Anteil von illegal erworbenem Hanf kann sehr hoch sein, und der Stoff ist teilweise verunreinigt. Zudem nehmen viele unbescholtene Bürger die Gefahr auf sich, kriminalisiert und bestraft zu werden.
Wer zahlt künftig für eine Therapie mit Cannabis?
Ob die Grundversicherung Cannabisarzneimittel künftig bezahlt, klärt der Bund derzeit ab. Laut dem BAG dürfte der entsprechende Bericht frühestens Anfang 2021 vorliegen.
Bei welchen Krankheiten wird Cannabis als Medikament eingesetzt?
Nur bei vier Indikationen kann das BAG heute eine Bewilligung erteilen:
Spastik, unter anderem bei multipler Sklerose
chronische Schmerzzustände
Appetitlosigkeit bei HIV-Erkrankungen
Übelkeit, Appetitlosigkeit und Schmerzen bei Krebserkrankungen
Erfolge werden aber auch bei anderen Krankheiten verzeichnet, wie etwa bei der Epilepsie, bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie etwa Morbus Crohn, bei Tinnitus oder Schlafstörungen.
Wie sieht es mit möglichen Nebenwirkungen aus?
Am häufigsten beschreiben Patientinnen und Patienten Mundtrockenheit, gerötete Augen, Schläfrigkeit, Herzrasen, tiefen Blutdruck oder Schwindel. Wenn die Dosis zu hoch eingestellt ist, können auch Rauschzustände auftreten. Hingegen ist eine Abhängigkeit bei fachgerechter Anwendung nicht zu erwarten. Um die Wirksamkeit von Cannabisprodukten besser zu erfassen, müssen die behandelnden Ärzte künftig ihre Erfahrungen dem BAG melden, insbesondere ihre Beobachtungen von Nebenwirkungen.
Die Vorlage sieht zudem den Wegfall des Exportverbotes vor. Wer wird davon profitieren?
Bei der Produktion des Grundstoffs, also der Cannabispflanze, könnten einige Bauernbetriebe profitieren. Markus Lüdi, Chemiker und mit seiner Cannapharm AG einer der wichtigsten Produzenten von Medizinalcannabis in der Schweiz, ist überzeugt, dass mit einer Exportbewilligung sicher 20 Bauern in der Schweiz einen schönen Zusatzverdienst machen könnten. Bei der Verarbeitung kommen dann vor allem Hersteller von pflanzlichen Arzneimitteln und spezialisierte Apotheken zum Einsatz. Für Qualitätsprüfung und die Zulassung ist Swissmedic vorgesehen.
Wie gross ist der Markt für Medizinalcannabis?
Gemäss dem «European Cannabis Report», einer Marktanalyse des britischen Büros Prohibition Partners, hätte ein vollständig liberalisierter Schweizer Markt bis ins Jahr 2028 im medizinischen Bereich ein Potenzial von 1,3 Milliarden Franken. Das grosse Marktpotenzial haben andere Länder schon längst entdeckt. Nebst den Pionieren in diesem Segment wie etwa Israel oder Kanada forciert auch Deutschland seit kurzem den Anbau von medizinischem Cannabis. Die erste grosse Anlage entsteht in Neumünster und dürfte Ende dieses Jahres ihre Produktion starten.
Wann treten die Neuerungen in Kraft?
Der Ständerat dürfte in der Frühlingssession dem Nationalrat weitgehend folgen. Die Gesetzesänderung und die entsprechende Verordnung dürften laut BAG frühestens Mitte 2022 in Kraft treten, wird kein Referendum dagegen ergriffen. Ein solches ist nicht in Sicht: Weder die Vereinigung Eltern ohne Drogen noch die SVP planen ein Referendum.
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